Ein junger Mann mit Fliegermütze (Konrad Singer) blättert im Buch der Welträtsel.

Foto: Rittershaus
Die Zivilisationskritik des österreichischen Dichters erreicht eine neue Stufe. Wer mit einstimmen wollte in das "lauschende Walten", wurde mit Poesie belohnt.


Peter Handke geht gern zu Fuß. Er hat auf diese Weise viele Länder und Kulturen durchquert, und wohl auch zahllose Zeiten. Im Lauf der Jahre ist er dabei auf einen Sonderweg geraten, auf dem er der Moderne nach Möglichkeit weiträumig ausweicht, während er das Wahre, Gute und Schöne am Wegesrand findet. Einige von den Gedanken, die einem Wandersmann so durch den Kopf gehen, während er dahinstapft, hat Peter Handke jetzt zu einem Stück versammelt. Es trägt den Titel Spuren der Verirrten. Am Samstag hatte es am Berliner Ensemble Premiere, in der Regie des treuen Claus Peymann, in einem angemessen wanderbaren Bühnenbild von Karl-Ernst Hermann und mit einem Publikum, das es sich durch keine metaphysische Obdachlosigkeit verdrießen ließ.

Vor einer schiefen Ebene nimmt zuerst einmal ein "Zuschauer" Platz. Er sieht sich die Sache von vorne an, ein Mittelsmann zwischen den Menschen im Parkett und den Schauspielern auf der Bühne. Das Stück entwickelt sich allmählich aus Stückwerk. In allen Richtungen überqueren Paare und Passanten die Bühne, sie lassen ein paar Worte fallen und deuten gelegentlich eine Geschichte an.

Dann sind sie aber schon wieder weg. Wie vor vielen Jahren, als Handke in Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten die Bühne in eine große Kreuzung umwandelte, geht es auch hier darum, den leeren Raum zu durchqueren und mit einer kleinen Impression zu füllen. Viel wird auch dieses Mal nicht geredet, immerhin aber ist nicht alles Schweigen.

Alte Damenhüte

Zwei alte Damen mit Hut (Carmen-Maja Antoni, Ursula Höpfner) bedrohen einander mit Zahnbürsten. Ein "Dritter" (Axel Werner) sinniert über den Krieg. Ein junger Mann mit Fliegermütze, Signaljacke und interaktiven Schuhen (Konrad Singer) bringt ein Buch zur Explosion und findet dann auch noch Löschwasser zwischen den Seiten. Es tut sich immer etwas auf der Bühne, allmählich verdichtet sich jedoch der Eindruck, dies könnte in etwa auf der Ebene jenes sinnlosen Gebrabbels liegen, mit dem einsame Wanderer sich gelegentlich selbst Gesellschaft sind. Was ist aus dem gestirnten Himmel über und dem moralischen Gesetz in den Menschen geworden? "Eine Bettdecke über mir und eine Matratze unter mir." Ist da Müdigkeit herauszuhören?

Eher der Schalk, der Handke zu diesem Stück geritten hat. Er bleibt seinen Paradoxien treu, will mit den Mitteln des Theaters über das Theater hinaus, will das Spiel in reale Gegenwart überführen, will eine neue Zeit ausrufen: "Die Zeit ist um!" Das ist die Parole, auf die das Stück hinausläuft. Die Zeit ist um, das bedeutet nicht, dass jetzt eine Ruhe ist, sondern dass die Zeit außer Kraft gesetzt wird, und dann erst recht viel Zeit für das Wesentliche ist.

Der Westen ("der anderswilde") mag immer noch an die Geschichte glauben. Handke tut es nicht mehr. Er lässt es gut sein, er sammelt das, was von den Tagen übrig blieb, und wie er einst auf seiner winterlichen Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina nicht so sehr die Spuren eines Krieges gefunden hatte, sondern eine Seinsweise der altertümlichen Unmittelbarkeit, so setzt er auch jetzt die Zeit als Geschichte (und das Theater als Stück) außer Kraft, um sie als besonderen Moment wiederzugewinnen.

Da haben sich die vereinzelten Wanderer auf der Bühne längst zu einer Schar zusammengefunden. Gemeinsam lauschen sie nun dem Wind und den Vögeln, und singen zart hinterher. Der Abend läuft auf eine Schicksalsgemeinschaft als Liedertafel hinaus. Wovon sich nicht sprechen lässt, davon muss man tirilieren - das ist die Sprachkritik des späten Handke.

Wer ein Stück erwartet hatte, wurde enttäuscht. Wer aber Gestimmtheit erwartet hatte, und bereit war, miteinzustimmen in das lauschende Walten, war am Ende begriffslos glücklich. Wie Peymann, wie Peter Handke, wie der größere Teil des Publikums. (Bert Rebhandl aus Berlin / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.2.2007)

>>>Weitere Pressestimmen: "Zackige Regie" und "Hohle Gesten" Weitere Pressestimmen: "Zackige Regie" und "Hohle Gesten"

Wien/Berlin - Die filigrane Sprache Peter Handkes in Kontrast zu Claus Peymanns "zackiger Regie" stellen mehrere deutschsprachigen Feuilletons am Montag in ihren Kritiken der Uraufführung von "Spuren der Verirrten", die am Samstag im Berliner Ensemble über die Bühne ging. Ein Überblick:

"Süddeutsche Zeitung": Inszenierung stockt wie ein Greis am Krückstock

Die "Süddeutsche Zeitung" übt Kritik am Umgang des Regisseurs mit dem Stück, indem sie diesen mit der Umarmung verglich, die Peymann Handke beim Schlussapplaus angedeihen ließ. Peymann "hat das zarte Textgespinst gepackt und an die Rampe gestoßen und solange in seinen Liebeswürgegriff genommen und geherzt und gedrückt und mit vermeintlicher Poesie aufgeladen, bis ihm die Luft wegblieb, die 'Gehluft', wie es bei Handke heißt".

Die Inszenierung "hinkt, lahmt und stockt wie ein Greis am Krückstock". Peymann stelle "dröge Theaterkunstfiguren ohne Geheimnis und ohne Zauber, in grässlich altbackene Kostüme gekleidet von Angelika Rieck", auf die Bühne. "Wenn sie singen, dann salbungsvoll und hehr; wenn sie gehen, dann trampelig und schwer. Man glaubt ihnen nicht: nicht ihre Sehnsucht, nicht ihren Schmerz. Sie sind Irrläufer. Aber sie haben eine zweite Chance verdient: demnächst in einer Inszenierung von Friederike Heller am Burgtheater Wien."

"FAZ": Stück noch zur Uraufführung frei

Auch die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" stellt die Inszenierung Peymanns den Worten Handkes entgegen: "Wo Handke entdramatisiert und nur seinen 'Zuschauer' erzählen lässt, was er sieht, dramatisiert Peymann und bläst die Szene auf", heißt es. "Lauter Seinsschwadroneure, Daseinsangeber, Existenzwindlügenbeutel: Also wäre das Stück noch zur Uraufführung frei. Denn Peymann, der Werkstückler, nimmt sie naiv und wacker alle für bare Münze."

"NZZ": Verzweiflungsgymnastik und hohle Gesten

"Harmloses Klappern mit einem leeren Theaterzeichenbeutel" sieht die "Neue Zürcher Zeitung" in ihrer Kritik unter dem Titel "Verzweiflungsgymnastik und hohle Gesten". "Man sieht: Leere, klappernde Figurenhüllen. Wo Handkes schwersinniges Drama von verlorenen oder wiedergefundenen Daseinszusammenhängen und einer Überfülle der Wahrnehmungswelten raunt, wo es von der heimlichen Lust am Verirren und dem Schauder des Vergehens schwärmt, bleiben auf der Bühne gekünstelte Posen zurück", heißt es weiter. Das Modellhafte des Textes sei zu "Kasperletheater" geworden. "Vielleicht ist es aber auch ein Missverständnis, dass sich das Sprechtheater für Peter Handke zuständig glaubt, denn 'Spuren der Verirrten' ist eher Tanzpartitur als Schauspielvorlage. Der Text verlangt danach, auf der Bühne formal gekontert zu werden, um ihn von seinem Schmock zu befreien und mit Dringlichkeit aufzuladen."

"Tagesspiegel" (Berlin): Zauber verloren

"Eine Handke-Uraufführung am Berliner Ensemble des Claus Peymann ist immer noch ein A-Termin, wobei man das am treffendsten mit Antikenabteilung übersetzt", schreibt der "Tagesspiegel". Die "Verirrten" haben "ihre Stimme wiedergefunden und ihren Zauber verloren, jedenfalls in Peymanns zackiger Regie. So vieles wäre vorstellbar mit diesem doch eher leichtfüßigen Text: ein Monolog, ein Dialog, Projektionen und Visionen. Doch am BE wird das Traumspiel niet- und nagelfest gemacht."

"Die Presse": Reine Routine

Als "großes Missverständnis, das dem Dichter und dem Theatermacher mit dieser Uraufführung passiert ist", bezeichnete "Die Presse" die Inszenierung. Peymann "beherrscht sein Metier. Kein anderer Regisseur könnte das, was Handke empfindet, so affektiert in Bilder umsetzen. Aber das ist auch die Schwäche dieser Inszenierung. Das nicht zu Fügende fügt sich zur reinen Routine."

"Kurier": Peymann legte Latte mittelhoch

"Irgendwie sperrt sich dieser Text gegen die Uraufführung am Berliner Ensemble", urteilt der "Kurier". "Für 'Spuren der Verirrten' hat Peymann die Latte mittelhoch gelegt; Heller könnte im Mai für die Burg mit der Respektlosigkeit der Jugend und der Frische ihrer Fantasie die Vorgabe gut überspringen." (APA)