Kein abgeschiedener Bauernhof, kein einsames Häuschen im Wald, keine Sozialwohnung im anonymen Wohnblock – die Reihenhausanlage liegt in einer der besten Wohngegenden von Linz direkt am Pöstlingberg. Ein atemberaubender Fernblick über die Stahlstadt, penibel gepflegte Gärten, und vor den Garagen glänzen ausschließlich hochpreisige Fortbewegungsmittel in der Morgensonne.

Doch die Idylle der Schönen und Reichen vor den Toren von Linz trügt. Das Eckhaus in der schmucken Siedlung in der Nöbauerstraße hebt sich deutlich vom noblen Wohnparadies ab. Der Garten völlig verwuchert, alle Fenster mit blickdichten Vorhängen verdunkelt, vor der Haustüre ein abgemeldeter Mittelklasse-Wagen. Auf der Rückbank stapelt sich der Müll, der Blick ins Innere schreckt eine Maus aus ihrer Sonntagsruhe. "In dem Auto hat sie sich oft stundenlang aufgehalten. Hat darin gelesen, öfter dort auch gegessen", erzählt Nachbar Adolf Liedl im Standard-Gespräch schockiert.

Müll und Mäuse

Hinter den Mauern des Reihenhauses spielte sich eine unfassbare Familientragödie ab. Sieben Jahre soll die psychisch schwerkranke Mutter ihre drei Töchter – heute 14, 18 und 21 Jahre alt – im Haus eingesperrt haben, nur selten durfte zumindest die jüngere Schwester in den Garten. Leben mussten die Mädchen unter menschenunwürdigen Bedingungen: Im Haus gab es kein Fließwasser, nur eine Glühlampe spendete Licht, Ungeziefer und Mäuse bevölkerten die Räume. Erst am 25. Oktober 2005 griffen die Behörden durch: Die Kinder wurden der 53-jährigen Juristin weggenommen und befinden sich heute in einer Therapieeinrichtung in Kärnten. Bekannt wurde der Fall aber erst jetzt, weil die Mutter sich kommende Woche vor dem Landesgericht Klagenfurt verantworten muss.

Das Haus habe sich in einem "völlig vermüllten Zustand" befunden. So hätten die Kinder "in einem unbeschreiblichen Misthaufen mit Mäusen gelebt". Es habe nach Moder und Exkrementen gerochen, beschreibt die behandelnde Familientherapeutin Waltraud Kubelka-Chimani die Lebensumstände der Mädchen. Die Kinder seien bei ihrer Befreiung in einem körperlich und psychisch "sehr desolaten Zustand" gewesen. "Das älteste Mädchen war deutlich unterernährt", so Kubelka.

Isolationssprache

Alle drei seien von der Mutter "minimal versorgt" worden und konnten deshalb überleben. Die "psychosoziale Entwicklung" sei jedoch "katastrophal".

Die Mädchen wären "emotional verflacht", der ältesten Tochter wurde durch Sachverständige bescheinigt, dass sie eine "lebenslange psychoasoziale Invalidität" habe, erläutert die Therapeutin. Auffallend sei vor allem, dass die Kinder "durch Isolation eine eigene Sprache entwickelt hätten". Auslöser für das Verhalten der Mutter dürfte eine nicht verkraftete Scheidung gewesen sein. Die Juristin war mit einem bekannten Linzer Richter liiert, nach der Trennung schottete sich die Frau aber immer mehr ab.

"Sie hat sich völlig zurückgezogen. Wir haben aber alle gemerkt, dass da etwas nicht stimmt. Vor allem haben sich die Kinder mit so komischen Lauten verständigt", erzählt Nachbar Liedl. Besonders schockiert sei er gewesen, als bekannt wurde, dass auch die älteste Tochter im Haus war. "Die habe ich über Jahre nicht gesehen. Ich habe geglaubt, die wohnt beim Vater." Gemeinsam habe man versucht, etwas zu tun, sei aber bei den Behörden meist auf "taube Ohren" gestoßen.

"Es gab aus der Siedlung unzählige Anzeigen bei den Behörden, passiert ist eigentlich nie etwas. Gut, sie hat ja auch nie jemanden ins Haus gelassen", erzählt Liedl. Einmal sei der Tierschutz dagewesen: "Der Labrador ist immer gegen die Scheiben gesprungen, weil er raus wollte."

Es sei einfach traurig, dass es so weit kommen musste, seufzt Nachbarin Wilma Derflinger: "Wir haben natürlich nicht gewusst, wie schlimm es wirklich ist. Aber es hat klare Anzeichen gegeben." Die Behörden hätten hier versagt. "Es gab ein Dutzend Anzeigen, und wir haben in der Nachbarschaft Unterschriften gesammelt", kritisiert Ehemann Franz Derflinger. Passiert sei aber sehr wenig. "Erst als ein Nachbar dem Bezirkshauptmann mit einer Amtshaftungsklage drohte, ist es plötzlich ganz schnell gegangen", wundert sich Derflinger. (Markus Rohrhofer, DER STANDARD print, 12.02.2007)