Das kleine Grüppchen waghalsiger Boarder, das da im Februar 2006 vor Daniela Tollinger in einen Hang im freien Gelände bei Hochötz im Tiroler Ötztal einfuhr, hätte also alle Anforderungen als ideale Gesprächspartner erfüllt - allerdings, seufzt die Off-Piste-Boarderin, habe sie zuerst den Schreck verarbeiten müssen, den die drei ihr und ihrer Gruppe eingejagt hatten: "Wir waren gerade bei einer Verschüttetensuchübung, als wir am Hang gegenüber eine Lawinen-Selbstauslösung sahen", erzählt die Mutter zweier Kinder. Und war mit dem, was der Berg da in sicherer Distanz an "kleiner" Unbezähmbarkeit zeigte, deshalb durchaus zufrieden. "Aber zehn Minuten später sind diese drei Jungs nur hundert Meter weiter aufgetaucht - und ohne links und rechts zu schauen in den Hang hineingefahren."
Tollinger, ihrem Bergführer und den Lawinentrainingskursteilnehmern
stockte der Atem, als die drei ein weiteres Schneebrett auslösten. Die
Lawine erfasste die Abenteurer nur knapp nicht: "Ich glaube, die drei haben
gar nicht mitbekommen, wie viel Glück sie da gerade gehabt
hatten."
Im Glücksrausch
Glück - in seiner körperlich spürbaren Form - ist aber auch etwas anderes. Glück ist ein Gefühl, das durch die Ausschüttung von Endorphinen verursacht wird. Und immer mehr Skifahrer und Snowboarder erliegen jenem glücklichen Rausch, den das bei wilden Abfahrten durch stiebenden Pulverschnee im Übermaß freigesetzte Hormon auslöst: "Freeriding" oder "Freeskiing" lauten die Vokabel zum alpinen Kick abseits der ebenso öden wie übervölkerten Pisten - und immer öfter schweift nicht nur der sehnsuchtsvolle Blick vom Sessellift ins freie, dramatische und wilde Gelände: "Die Piste bringt mich zum Schnee", umreißt der Freerider Volker Hölzl die Motivation, die ihn den Weg in "dieses unbeschreibliche Gefühl von Freiheit" suchen lässt.
Aber eben nicht nur Hölzl. Und dem in Wien lebenden Eventorganisator fiel einiges auf: zum einen, dass Ski-Marketing und Alpinwerber fast nur noch mit Bildern aus dem Tiefschnee agieren. Dann, dass die seit Jahren aktive Hardcore- Powder-Szene immer mehr aus dem Freak-Eck ins Blickfeld der Mainstream- Skifahrer kam. Und dass er "vermutlich deshalb" im Gelände immer öfter auf "überforderte und ahnungslose" Normalo-Skifahrer und Boarder traf. Deshalb begann Hölzl vor mittlerweile vier Jahren, Freeride-Seminare zu organisieren. Unter dem Titel "Freeride Experience" will der 36-Jährige dabei aber mehr als den Traum und die richtige Skiführung im unverspurten Terrain vermitteln: Zentraler Punkt von Hölzls Programm ist es, "den Respekt vor dem Berg und der Natur zu vermitteln".
Unter anderem dadurch, dass ein zumindest halbtägiger Crash-Kurs im
Umgang mit Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS, vulgo
"Pieps"), Sonde und Schaufel - also jenem Notfallequipment,
"ohne das ich mich keinen Zentimeter neben die Piste bewege"
(Hölzl) - zum Pflichtprogramm jedes Workshops zählt. Freilich warnt
der Freeride-Veranstalter davor, sich zu viel auf dieses Sicherheitstraining
einzubilden: "Da bekommt man einen kleinen, ersten Eindruck von dem,
was keiner je im Ernstfall erleben will." Dass Tollingers Risiko-Workshops
beim Alpenverein fünf Tage für Sicherheitsequipment und
"Lesen" von Schnee, Wetter und Hängen vorsehen, findet
Hölzl "sicher nicht übertrieben - sogar Bergretter üben
das immer wieder."
Sehnsucht nach Abenteuern
Das Dilemma ist freilich auch hausgemacht: Der Warnhinweis "Achtung! Alpine Gefahren!" steht auf keinem Panoramabild, mit dem Hotels und/oder Pauschalarrangements beworben werden. Pisten werden zu immer einfacher befahrbaren Autobahnen totplaniert. Um Urlauber nur ja nicht zu demoralisieren, bekommen auch einfachste (blaue) Hänge rasch eine rote oder schwarze Markierung. Und mit modernem Ski-Equipment kann fast jeder halbwegs ins Tal carven. Je mehr Menschen Hochleistungslifte gleichzeitig auf die ohnehin überfüllten Pisten schaufeln, umso größer wird dann die Sehnsucht nach dem Abenteuer: "Tiefschnee ist eine Droge", erklärt dazu Herbert Tschuggnall, der Chef der Lecher Pistenrettung - und fügt seufzend hinzu: "Sobald die in Sichtweite ist, rutscht den Leuten das Hirn in die Knie." Und oft genug, betont Tschuggnall, sei das nicht einmal nur auf dumpfe Ignoranz zurückzuführen.
Öfter als einmal, bestätigt der Salzburger Bergführer Nicolaus
Wintersteiner den Vorarlberger Profi-Retter, sei er beim Einschalten seines LVS in
Seilbahnen von hippen Kids (Boardern wie Skifahrern) gefragt worden, "was
das denn für ein cooles GPS-Teil" sei. Und nicht erst einmal
"sind dieser Junge und seine Freunde dann hinter mir her und im Rudel in
den Hang eingefahren - da kann einem anders werden."
Aufklärungsunterricht
Diese Unwissenheit mit Verboten oder gar Strafen zu bekämpfen, würde aber in die falsche Richtung führen, meint Tschuggnall: Gegen das All-inclusive-Feeling und "die furchtbaren Szenen, zu denen wir immer wieder gerufen werden" nutze "nur Aufklärung, Aufklärung und Aufklärung. Man muss eben immer wieder erklären, dass der Berg kein Rummelplatz ist." Tschuggnalls Mantra: "Ein erkanntes Risiko ist ein reduziertes Risiko - aber Drohen und Verbieten schafft kein Verständnis."
Auf ebendieses Erkennen und Verstehen setzt auch Daniela Tollinger mit den Risk-&-Fun-Freeride-Sicherheitskursen des Alpenvereins: "Freerider sind eine komplett andere Klientel als klassische Tourengeher. Tourengeher haben meist eine über Jahre gewachsene Alpin-Sozialisation." Freerider aber kommen meist aus fun- und kommerzaffinen Szenerien - und suchen weniger die Erbauung als den "Kick." Tollinger: "Mit dem Zeigefinger geht da nix. Darum setzen wir nicht stur auf das Bergführer- entscheide-für-mich-Prinzip, sondern beschäftigen uns damit, wie in solchen Gruppen Entscheidungen getroffen werden."