Zur Person

Paulus Hochgatterer lebt als Schriftsteller und Kinder- und Jugendpsychiater in Wien. Er leitet das Institut für Erziehungshilfe in Wien-Floridsdorf. Seine erzählerischen Werke basieren auf seinen beruflichen Erfahrungen als Psychiater. Im vergangenen Jahr ist sein neuester Roman 'Die Süße des Lebens' im Zsolnay Verlag erschienen.

Foto: Standard/Corn Heribert
Unruhig am Sessel rutschen, die Aufmerksamkeit ständig da, wo sie nicht sein soll und rastloses Umhergehen in der Klasse können die Symptome eines ADHS sein. Es handelt sich dabei um eine psychische Erkrankung, die Eltern und Lehrern ebenso wie den betroffenen Kindern den Alltag schwer macht. Der Kinderpsychiater und Schriftsteller Paulus Hochgatterer mahnt im Gespräch mit derStandard.at zur Vorsicht bei voreiliger medikamentöser Behandlung und betont die Wichtigkeit interdisziplinärer Angehensweise. Für ihn ist ADHS durchaus auch ein Symptom unserer Gesellschaft. Die Fragen stellte Marietta Türk.

derStandard.at: Es gibt verschiedene Bezeichnung für Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern - Was sind die Unterschiede zwischen den Abkürzungen ADS, ADHD, ADHS, HKS?

Hochgatterer: In der Kinderpsychiatrie verwendet man entweder ADHS, das ist die eingedeutschte Version und heißt Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom. ADHD ist die Abkürzung der englischen Version und heißt Attention Deficit Hyperactivity Disorder. Die alte Bezeichnung ist HKS, Hyperkinetisches Syndrom. Diese Bezeichnung fokussiert auf die psycho-motorische Unruhe, die diese Kinder oft aufweisen.

ADS ist nichts anderes als eine Spielart des ADHS, nämlich das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und wie man unschwer sieht, fehlt da die Hyperaktivität. Es gibt Kinder, die haben ein Problem mit der Aufmerksamkeit und sind dabei nicht hyperaktiv.

derStandard.at: Wie wird ADHS definiert – kann man es überhaupt als Krankheit bezeichnen?

Hochgatterer: Wenn man Krankheit als einen Zustand bezeichnet, der Leiden hervorruft, kann man das ohne Zweifel als Krankheit bezeichnen. Das ADHS ist ein Symptomkomplex, der primär in den Betroffenen selbst und auch sekundär, das heißt dadurch wie die Umgebung darauf reagiert, ein Leiden hervorruft. Auch in der Umgebung, bei den Personen, die mit ADHS-Betroffenen zu tun haben, erzeugt die Krankheit einen massiven Leidensdruck.

derStandard.at: Welche Symptome treten bei ADHS auf?

Hochgatterer: An der Abkürzung kann man sich ganz gut orientieren: Es sind Kinder, die ihre Aufmerksamkeit nicht über eine längere Zeit hinweg auf eine Tätigkeit oder ein Thema fokussieren können. Sie schweifen ab, gehen zu irgend etwas Anderem über, sind sprunghaft. Das H in der Abkürzung bedeutet, dass die Kinder oft auch motorisch hyperaktiv sind, nicht ruhig sitzen, dauernd herum hüpfen.

Wenn man ADHS dann tatsächlich als klinische Diagnose stellt, sollten diese Symptome nicht nur in der Schule auftreten, sondern weitgehend umgebungsunabhängig sein. Ein Bestandteil, der zwar nicht in der Abkürzung vorkommt, aber trotzdem auftritt, ist manchmal eine mehr oder weniger ausgeprägte Impulsivität bei den Kindern. Sie haben Schwierigkeiten ihre Affekte in Bahnen zu halten und reagieren auf Kleinigkeiten sehr aufbrausend.

derStandard.at: Wie viele Kinder leiden denn an ADHS?

Hochgatterer: Das mit den Zahlen ist ein Problem. Je nach Sichtweise und Untersuchungsstandard gibt es da verschiedene Zahlen und die reichen von unter einem Prozent in einem bestimmten Kollektiv von Kindern und Jugendlichen bis zu über zehn Prozent.

derStandard.at: Wie ist die Geschlechteraufteilung?

Hochgatterer: Auch da gibt es keine ganz zuverlässigen Zahlen. Aber man geht heute davon aus, dass drei Mal soviele Buben als Mädchen betroffen sind. Früher hat man sogar angenommen zehn Mal soviel Buben.

derStandard.at: In der Forschung geht man davon aus, dass verschiedene Faktoren für ADHS verantwortlich sind. Was kann die Krankheit auslösen?

Hochgatterer: Beim ADHS im engsten Sinn findet man keinen psychosozialen Auslöser. Bei den betroffenen Kindern erscheinen die Lebensumstände normal. Psychosoziale Belastungen sind nicht vorhanden und auch keine anderen psychischen Störungen und trotzdem haben die Kinder Aufmerksamkeitsdefizite und sind hyperaktiv. Über die genauen Gründe weiß man nichts, daher wird ADHS auch als eigenständiges Krankheitsbild beschrieben.

derStandard.at: Was weiß man über genetische Ursachen?

Hochgatterer: Die genetischen Faktoren werden wie bei allen psychischen Erkrankungen untersucht und es sieht so aus, dass genetische Faktoren wie bei anderen psychischen Krankheiten eine Rolle spielen. Es scheint, dass diese Faktoren bei ADHS den Stoffwechsel bestimmter Transmitter (Dopamin, Noradrenalin) im Gehirn betreffen.

derStandard.at: Tritt AHDS bei hochbegabten Kindern häufiger auf?

Hochgatterer: Da wäre ich mit Zahlen sehr vorsichtig, denn wenn man in diese Richtung geht, dann kommt es zu dem Phänomen, auf das man in der Kinderpsychiatrie ja immer wieder stößt: Dass Eltern zu einem Kinderpsychiater kommen und sagen, mein Kind konzentriert sich so schlecht, oder die Lehrerin sagt, das Kind schaut dauernd in die Luft in der Klasse – ist es möglicherweise hoch begabt? Natürlich kommt es vor, dass Kinder in der Klasse sitzen und sich in Wahrheit fadisieren, weil sie mit ihren intellektuellen Fähigkeiten schon viel weiter sind. Aber das ist immer noch bei weitem die Ausnahme.

derStandard.at: Wie wird ADHS behandelt?

Hochgatterer: Das ist eine sehr wichtige Frage, denn reflektorisch fällt einem beim ADHS das Methylphenidat aus der Gruppe der Stimulantien und Aufputschmittel ein. Aber die Wahrheit ist die, dass es ja für ADHS-Kinder Behandlungsstandards gibt und die sehen immer eine umfassende und multidisziplinäre Behandlung vor. Das heißt ADHS-Kinder sollten nie nur pharmakologisch behandelt werden, sondern immer auch psychosoziale und pädagogische Maßnahmen stattfinden. Das ist sehr aufwändig und erfordert, dass man sich das Kind und seine Umgebung genau anschaut. Und das ist oft auch schwierig, weil es Zeit verlangt. Diagnostik und Behandlungsführung gehören in die Hand von Menschen, die damit vertraut sind.

derStandard.at: Wie sieht das in der Praxis konkret aus?

Hochgatterer: Man arbeitet erstens mit den Familien, das heißt dass man die primären Bezugspersonen - das sind meistens die Eltern - in dem Sinn mitbehandelt, dass man sie zumindest berät und versucht ihnen den Leidensdruck zu nehmen und Strategien zu erarbeiten wie man mit dem Kind umgeht. Das verlangt auch die Miteinbeziehung der Schulen – die Lehrer stehen ja, wenn sie solche Kinder in der Klasse haben, oft auch unter einem beträchtlichen Leidensdruck. Das macht manchmal pädagogische Sondermaßnahmen wie zum Beispiel stundenweise eigene Lehrkräfte für die Kinder notwendig. Was man auch nicht übersehen sollte ist, dass diese Kinder oft auch Teilleistungsstörungen aufweisen.

derStandard.at: Die Umgebung leidet mit. Wie sollte man mit ADHS-Kindern umgehen?

Hochgatterer: Das Geheimnis und auch das Schwierige im Umgang mit diesen Kindern ist, dass man eine Balance zwischen einer Haltung findet, die auf der einen Seite ausreichend Freiraum gewährt und auf der anderen Seite einen Rahmen mit festen Grenzen bietet. Falsch ist es zu meinen, das Leben eines ADHS-Kindes müsste ausschließlich aus Einhalten von Regeln bestehen. Das darf bei keinem Kind so sein.

derStandard.at: Was geschieht, wenn man die Krankheit nicht behandelt?

Hochgatterer: Dann entwickeln sich ADHS-Kinder immer wieder auch zu ADHS-Erwachsenen, die Störung kann also auch bestehen bleiben. Aber wie man in der Entwicklung lernt mit eigenen psychischen Eigenheiten und Charakteristika zurechtzukommen, kann man auch lernen mit ADHS zurechtzukommen.

derStandard.at: Heilbar ist ADHS aber nicht?

Hochgatterer: Man kann das in eine Richtung lenken, so dass die Menschen damit leben können. Viele können dann im Sinn der herkömmlichen Norm ein durchaus unauffälliges und angepasstes Leben führen.

derStandard.at: Glauben Sie, dass speziell bei ADHS die Möglichkeit der Behandlung im niedergelassenen Bereich wichtig wäre?

Hochgatterer: Das ist sicher wichtig, denn das wird eine Klientel sein, die die niedergelassenen Kinder- und JugendpsychiaterInnen sehr beschäftigen wird. Und da wird es wichtig sein, dass die niedergelassenen KollegInnen ein gutes Kooperationsnetz haben: PsychologInnen, ErgotherapeutInnen, PädagogInnen, mit denen sie kooperieren. Wichtig wäre auch der Kontakt zu den Selbsthilfeorganisationen, die es in diesem Bereich gibt und die für die Angehörigen oft sehr wichtig und entlastend sind.

derStandard.at: Können die Symptome der Erkrankung auch versteckt auftreten?

Hochgatterer: Es gibt Aufmerksamkeitsstörungen wie das ADS, bei dem Kinder, auch ohne dass sie motorisch unruhig sind, ein Problem mit ihrer Aufmerksamkeit haben. Und das sind dann jene, bei denen man mit der Diagnose und gegebenenfalls mit der Pharmako-Therapie sehr vorsichtig sein sollte.

derStandard.at: Unsere Aufmerksamkeit ist generell Schwankungen unterworfen. Wodurch kann sie beeinträchtigt werden?

Hochgatterer: Aufmerksamkeit ist kein isoliertes psychisches Phänomen. Sie ist von ganz verschiedenen Dingen abhängig und über den Tageslängsschnitt betrachtet nicht gleichermaßen vorhanden. Das heißt Kinder, die sehr traurig oder depressiv sind, haben oft auch ein Problem mit der Aufmerksamkeit, weil sie mit anderen Inhalten beschäftigt sind. Kinder und Jugendliche, die eine Denkstörung aufweisen, weil sie in eine psychotische Entwicklung gehen, haben auch ein Problem mit der Aufmerksamkeit. Oder auch Kinder, die durch äußere Lebensumstände sehr belastet sind und unter sozialen Belastungen aufwachsen: häufige heftige Konflikte in den Familien oder Trennungen der Eltern.

derStandard.at: Kann man ADHS als eine Modeerkrankung unserer Gesellschaft bezeichnen?

Hochgatterer: Ich werde oft missverstanden, weil ich dezidiert sage, dass das ADHS zur Modeerkrankung geworden ist. Meinem Eindruck nach wird zu oft und ohne dass man die ausreichende diagnostische Sorgfalt walten lässt, diagnostiziert. Ich habe ein Problem damit, dass man den Kindern sehr rasch eine Medikation gibt. Und das ist gelegentlich, um es vorsichtig auszudrücken, immer noch der Fall. Dass Kinder - nur weil sie in der Klasse herumhüpfen - ganz rasch Methylphenidat verschrieben bekommen, ohne dass man sie ausreichend diagnostiziert und andere therapeutische Maßnahmen setzt.

derStandard.at: Leidet unsere heutige Gesellschaft unter Aufmerksamkeitdefizit?

Hochgatterer: Ich habe in dem Zusammenhang gesagt, ich habe manchmal den Eindruck es handelt sich eher um ein Phänomen eines gesellschaftlichen Aufmerksamkeitsdefizits. Das heißt, wir haben verlernt unseren Kindern gegenüber ausreichend aufmerksam zu sein und genau hinzuschauen. Es ist einfach aufwändiger sich regelmäßig mit Eltern zu treffen, sich regelmäßig mit Lehrern zu besprechen, sich therapeutisch mit so einem Wirbelwind auseinanderzusetzen, als einfach ein Kind mit einem Medikament abzufüttern.