Politiker und Verfassung sind schuld: Nicolas Baverez.

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Wien – Einst lag der kranke Mann Europas am Bosporus, heute liegt er, wenn man Nicolas Baverez Glauben schenkt, in Westeuropa und heißt Frankreich. Das Pariser Multitalent Baverez – Ökonom, Wirtschaftsanwalt, Bestsellerautor, begehrter Medienkommentator – ist seit Jahren ein vehementer Kritiker von Immobilismus und Reformträgheit in Frankreich. Diesen Ruf stellte er auch am Dienstag bei einer vom "Institut für die Wissenschaften vom Menschen" und dem "Institut Français" gemeinsam veranstalteten Vorlesung in Wien unter Beweis.

Die EU-Länder, meint Baverez, hätten in den letzten Jahren sehr unterschiedlich auf die globale Verschiebung der wirtschaftlichen Gleichgewichte, namentlich das Erstarken der Schwellenländer, reagiert. Während Irland oder teils auch Spanien erfolgreich einen liberalen Reformkurs eingeschlagen haben, haben die nordeuropäischen Länder nicht minder erfolgreich auf eine mehr sozialdemokratisch getönte Reformpolitik gesetzt – Stichwort "Flexicurity". (Auch Österreich zählt Baverez zu den Erfolgsmodellen). Von den drei Ländern, die in den letzten Jahrzehnten am tiefsten in Schwierigkeiten steckten, Deutschland, Frankreich und Italien, haben zwei, Deutschland und Italien, den Turnaround geschafft.

Allein in Frankreich, diagnostiziert Baverez anhand einer Reihe Besorgnis erregender wirtschaftlicher Eckdaten, liegen die Dinge immer noch im Argen: ein aufgeblähter öffentlicher Sektor (über fünf Millionen Beamte im Jahr 2007, während es in den 80ern noch vier Millionen waren), eine Staatsverschuldung von 67 Prozent des BIP, Tendenz steigend; der Umstand, dass Franzosen durchschnittlich nur 22 Jahre (von 32 bis zum Alter von 54) vollzeitbeschäftigt arbeiten; der bei den Vorstadtkrawallen 2006 wieder augenfällig gewordene Ausschluss großer Bevölkerungsteile aus dem Erwerbsleben.

Baverez bleibt dennoch optimistisch: Der Reformunwille der Franzosen sei kein Naturphänomen (sie haben in der Vergangenheit, etwa 1958, beim Übergang von der Vierten zur Fünften Republik, gezeigt, dass sie zu schneller Veränderung fähig sind), sondern auf „pädagogisches Ungeschick“ und Gleichgültigkeit der politischen Klasse zurückzuführen, die es nicht verstanden habe, die Notwendigkeit eines Bruchs mit lieben Gewohnheiten zu vermitteln. Fatal ist für Baverez das institutionelle Gefüge der Fünften Republik, weil in ihm Macht und politische Verantwortung völlig auseinanderklaffen.

Auf die Frage des Standard, welcher Präsidentschaftskandidat denn am ehesten das Zeug hätte, Reformen einzuleiten, gibt Baverez keine eindeutige Antwort. Es sei auf jeden Fall gut, dass eine jüngere Garde zum Zug komme. Doch von den möglichen Chirac-Nachfolgern sei ein jeder in den vergangenen Wochen in ein konservativeres Fahrwasser eingeschwenkt. Dieses Bestreben, nur ja niemanden mit allzu radikalen Reformideen zu schrecken, sei aber das Gegenteil dessen, was das Land brauche. (Christoph Winder, DER STANDARD, Print, 18.1.2007)