Foto: Théâtre Nanterre-Amandiers / Alain Monod

Jane Birkin, die ewig junge Großmutter, die seit den späten 60er-Jahren weltweit hauchend Chansons interpretiert ("Je t'aime moi non plus" 1969), steht im Pariser Théâtre Nanterre-Amandiers zum zweiten Mal auf der Bühne: 1985 spielte sie unter der Leitung von Patrice Chéreau in der Falschen Zofe von Marivaux. Jetzt übernimmt sie die Titelrolle der Elektra in Sophokles’ Tragödie, in der Regie des jungen Philippe Calvario. Letzterer war Regieassistent bei Chéreau. Er wird nach wie vor von seinem Meister gefördert und lieferte bereits einige wunderbare Theatermomente.

Calvario übernimmt das von Chéreau seit jeher praktizierte Prinzip, einen internationalen Star auf der Bühne zu haben, um das breite Publikum für seine Theaterstern- und -lernstunden zu gewinnen. Ohne den Namen Birkin hätte die Calvario-Version der Elektra a priori wenig Anziehungskraft: Die Kritiker- Skepsis, was Birkins theatralische Möglichkeiten betrifft, insbesondere ihre nicht ausreichende Stimme und ihren immer noch viel zu starken Akzent, ist und bleibt berechtigt.

Im Laufe der Aufführung schafft sie es jedoch, die Elektra glaubwürdig zu gestalten und – gemeinsam mit einigen anderen Darstellern – echte Emotionen beim Publikum hervorzurufen. Calvario hilft ihr insofern, als er alle Schauspieler mit Kopfmikrofonen ausstattet. Das ermöglicht Birkin, die für sie so schwierig zu artikulierenden französischen Sätze unter Kontrolle zu bekommen. Ihre Elektra ist keine große Tragödin, die in ihrer Verzweiflung und Vereinsamung völlig aus sich herausgeht, wie Fiona Shaw 1987 in der Royal-Shakespeare-Company-Produktion unter der genialen Leitung von Deborah Warner. Aber Birkin flüchtet sich zumindest nicht in die Haltung des Opferlamms.

Wiedersehensfreuden

Als ein weiteres Handicap muss Birkin, die zweitälteste Darstellerin in einer bunt zusammengewürfelten Besetzung, auch ihr Alter überspielen, um schließlich in die Arme des wiedergefundenen Bruders Orest (Fréderic Andrau mit bis zum Gürtel freigelegter Brust) zu springen. Nur der Erzieher Orests, der großartige Jean-Claude Jay, ist älter als Birkin. Er beglückt die Zuschauer in der Szene, wo er den fiktiven Tod des Orest beschreibt, mit einem begnadeten Moment.

Die durch die würdige Gestaltung der Chrysostemis, der angepassten Schwester der rebellischen Elektra, durch Sophie Tellier im giftgrünen, schulterfreien Abendkleid (Kostüme: Jon Morrell) zusätzlich aufgewertet wird. Tellier dominiert in den Auseinandersetzungen mit Elektra-Birkin dermaßen, dass sich der Verdacht einer Regie-Fehlinterpretation aufdrängt. Birkin kann erst in der Aussprache zwischen Elektra und ihrer Mutter Klytämnestra (Florence Giorgetti) zur Bestform auflaufen, die sie in der fast inzestuösen Erkennungsszene mit Orest beibehält. Calvario wählt eine sehr physische Interpretation, wo die Schauspieler einander fest anfassen oder umarmen, was dramaturgisch extrem effizient ist.

Der Jungregisseur stellte einen Chor aus jungen Frauen unterschiedlicher Hautfarbe zusammen, der von der algerischen Sängerin Biyouna angeführt wird. Das gibt der Aufführung einen Touch von Mittelmeer-Folklore, den man in der Vorstadt Nanterre, wo die maghrebinische Bevölkerung zahlenmäßig stark präsent ist, wie einen Integrations-Wink in Richtung der Lokalbevölkerung interpretieren kann. Da der Abend – dem griechischen Vorbild entsprechend – ständig von Musik begleitet wird, summt oder singt der Frauenchor.

Der Filmmusik-Komponist Eric Neveux liefert eine musikalische Untermalung, die in ihrer Banalität einer Aufzugsmusik ähnelt und dem einfallslosen Einheitsbühnenbild (Bühne: Philippe Calvario) entspricht, das – frontal zu den Zuschauern – aus einem Karton-Kleinkind-Bilderbuchhaus mit Terrasse und Schiebetüren besteht. Da bereits eine bedeutende Tournee in Frankreich und in die Schweiz feststeht, könnte es gut sein, dass die Produktion auch nach Österreich reist. (Olga Grimm-Weissert aus Paris / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11.1.2007)