Kein tauglicher bildungspolitischer Schutzpatron: Es gilt, den undemokratischen Beeinträchtigungen von Bildungschancen endlich etwas entgegenzusetzen.

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Eine Handlungsanweisung für die neue große Koalition - Karl Heinz Gruber

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Wer in diesen Tagen ein Déjà-vu-Erlebnis haben möchte, dem bieten sich zwei Möglichkeiten: sich im Kino den gleichnamigen Film mit Denzel Washington anzuschauen oder darüber nachzudenken, welche Bewandtnis es mit den Schulversuchen hat, die als einer der Kompromisse der SP-VP-Koalitionsvereinbarung angekündigt wurden. War da nicht schon mal was mit großkoalitionär beschlossenen Gesamtschulversuchen?

In der Tat: Von 1970 bis 1986 wurde an etwa 120 österreichischen Schulen ein Versuchsmodell erprobt. Die Rahmenbedingungen für diesen Schulversuch waren alles andere als günstig: Fast alle der teilnehmenden Schulen waren Hauptschulen, und viele der beteiligten Lehrer waren gegenüber dem Schulversuch weder positiv eingestellt noch waren sie auf die neuen Herausforderungen angemessen vorbereitet. Dennoch erbrachte die empirische Evaluierung - sie war von ausländischen Experten als objektiv und verlässlich anerkannt worden - für das Gesamtschulmodell positive Befunde.

Keine Auswirkungen

Die befürchtete "Niveausenkung" war nicht eingetreten, es gab weniger Sitzenbleiben und weniger soziale Auslese, und viele der Gesamtschüler hatten eine bessere Einstellung zur Schule. Was bewirkte der Schulversuch im Hinblick auf die problematische Zweigliedrigkeit der Sekundarstufe I? Nichts. Die ÖVP weigerte sich, die Schulversuchsbefunde zur Kenntnis zu nehmen, der SPÖ war die Reformenergie ausgegangen. Ohne die erforderliche parlamentarische Zweidrittelmehrheit erging es den Schulversuchen wie einem Schneemann in der Hölle.

Wozu also nochmals Schulversuche? Wenn sie nicht zentrales Element einer wohlüberlegten, durchkomponierten Schulreformstrategie konzipiert sind, sondern bloß als Alibi missbraucht werden, um einer SPÖ-ÖVP-Koalition den "Stolperstein Gesamtschule" aus dem Weg zu räumen, wäre schade um die Innovationsbereitschaft der beteiligten Lehrer und um die verplemperten Ressourcen. In den vergangenen Jahrzehnten haben zahlreiche europäische Länder ihre Schulsysteme reformiert und Gesamtschulen eingeführt. Aus dem Vergleich dieser Reformen lässt sich ein idealtypischer Ablauf von Schulreformen herausfiltern:

1. eine Bestandsaufnahme der Stärken und Schwächen des schulischen Status quo unter gleichzeitiger Erarbeitung eines Zukunftsmodells;

2. dessen Erprobung in Schulversuchen;

3. Schaffung von förderlicher Rahmenbedingungen und Setzung flankierender Maßnahmen einer systemweiten Reform (Lehrer- und Elternbildung; Schulbau . . .);

4. nach Berücksichtigung der in den Schulversuchen gemachten Erfahrungen die Umsetzung des neuen Modells im gesamten Schulsystem;

5. Übergang in eine "rollende Reform", d. h. eine permanente behutsame Nachjustierung der Institution Schule in einer sich wandelnden Gesellschaft ("schola semper reformanda").

Es ist hoch an der Zeit dass die österreichische Bildungspolitik Abschied nimmt von ihrem Schutzpatron Hamlet, der in seinem "To be or not to be"-Monolog meint ". . . dass wir die Übel, die wir haben, lieber ertragen, als zu unbekannten fliehen". Eine ehrliche bildungspolitische Eröffnungsbilanz der großen Koalition hätte zuallererst "die Übel, die wie haben", zu analysieren: die Nebenwirkungen der zu frühen schulischen Auslese, die schulisch geförderte soziale Segregation, ungenügende Individualisierung, die Abschiebung von Ausländerkindern in Sonderschulen . . .

In einem zweiten Schritt ginge es natürlich nicht darum, "zu unbekannten Übeln zu fliehen", sondern unter Nutzung der österreichischen pädagogischen Kreativität und nach sorgfältigen Analysen erfolgreicher ausländischer Gesamtschulmodelle ein taugliches österreichisches Schulmodell für die Sekundarstufe I zu entwickeln.

Schulversuche bzw. Modellschulen sind kostspielig und kostbar. Nach den Erfahrungen mit englischen "beacon schools" ("Leuchtturm-Schulen, die ausstrahlen") und finnischen "Aquarienschulen" (die "einsehbar sind") überzeugt nichts die reformskeptische Lehrerschaft so sehr wie die Beobachtung von bzw. Teilhabe an glaubwürdiger, erfolgreicher Reformschulpraxis.

Verdeckte Ablehnung

Einer der Koalitionsverhandler hat gemeint, das Schulwesen dürfe nicht jahrelang eine "Großbaustelle" sein. Diese Forderung ist entweder eine verdeckte Ablehnung jeglicher Reform oder eine grobe Fehleinschätzung, wie rasch sich komplexe soziale Systeme ändern lassen. Da Österreich ausländische Erfahrungen nutzen kann, braucht man hier zu Lande nicht wie in Schweden zuerst ein Jahrzehnt zu forschen, dann ein Jahrzehnt Schulversuche zu betreiben und schließlich eine Jahrzehnt das Gesamtschulmodell im ganzen Lande umzusetzen.

Aber auch in Österreich braucht gut Ding angemessene Weile. Von wegen "Großbaustelle": Für die um Kontrollverlust besorgte Schulbürokratie mag eine gewisse Unübersichtlichkeit entstehen, wenn "1000 Blumen blühen", sie kann sich aber darauf verlassen, dass an jedem einzelnen Schulstandort Lehrerkollegien ihr Bestes geben; glaubwürdige Schulversuche aktivieren erfahrungsgemäß professionelle Energie und Verantwortung.

Zu wenig Wissen

Die österreichische Öffentlichkeit weiß viel zu wenig darüber, wie das bestehende Schulsystem funktioniert; verlässliche Daten sind weder durch Erinnerungen an die eigene Schulzeit noch durch Erfahrungen als Eltern von Schulkindern zu erreichen. Dazu braucht es sehr viel mehr Bildungsforschung und Bildungsberichterstattung als bisher. Jedes Mal, wenn ich im Audi Max der Universität Wien angehende Lehramtsstudierende schätzen ließ, für wie groß sie den Prozentsatz der österreichischen Kinder halten, die zwischen zehn und 14 Jahren eine AHS-Unterstufe besuchen, glaubte die große Mehrheit - ihre eigenen Schulkarrieren verallgemeinernd - "so etwa drei Viertel". In Wirklichkeit sind es nur "so etwa ein Drittel".

Dass 86 Prozent städtischer Mädchen, deren Eltern selber eine AHS absolviert haben, eine AHS-Unterstufe besuchen, aber nur sieben Prozent gleich hoch begabter ländlicher Buben, deren Eltern bloß einen Pflichtschulabschluss haben; dass die einjährige polytechnische Schule (auch so ein großkoalitionärer Kompromiss) trotz der engagierten Arbeit ihrer Lehrerinnen und Lehrer ein schulorganisatorischer Schwachsinn ist; dass jenes Drittel der AHS-Unterstufenschüler, die mit 14 in eine BHS wechseln, einen unzureichenden Lehrplan absolvieren, weil der Unterstufenlehrplan auf der Annahme des Durchlaufens der achtjährigen Langform der AHS beruht; dass die Hauptschüler, die schließlich doch zur Matura gelangen, offensichtlich im Alter von zehn Jahren in eine falsche Schule eingetreten sind.

All das und vieles mehr sind nicht, um noch mal Hamlet bemühen, zu erduldende "Pfeil' und Schleudern eines wütenden Geschicks", sondern nicht zu tolerierende, undemokratische Beeinträchtigungen von Bildungschancen, die es gilt, "durch Widerstand zu enden." (DER STANDARD Printausgabe, 9. Jänner 2007)