Wolfgang Ullrich, "Haben wollen – Wie funktioniert die Konsumkultur". € 18,40/217 Seiten. S. Fischer, Frankfurt/Main 2006. Mathias Binswanger, "Die Tretmühlen des Glücks – Wir haben immer mehr und werden nicht glücklicher. Was können wir tun?". € 10,20/224 Seiten. Herder, Freiburg im Breisgau 2006.

Buchcover: Fischer
In der mittlerweile verblichenen kommunistischen Schuhindustrie kamen Wirtschaftsexperten auf die Idee, die Beschäftigten nach dem Gewicht des verarbeiteten Materials zu bezahlen. Daraufhin wurden die Schuhe immer klobiger und schwerer, bis sie schließlich so unbequem waren, dass sie niemand mehr tragen wollte.

Der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger erzählt diese Geschichte in seinem neuen Buch Die Tretmühlen des Glücks. Er zeigt darin auf, wo die Folgen unserer Marktwirtschaft ähnlich unbefriedigend sind wie die Schuhe aus Zeiten der Planwirtschaft. Und entwirft Strategien, wie man den Status-, Anspruchs-, Multioptions- und Zeitspartretmühlen entkommen kann. Herausgekommen ist dabei ein Ratgeber, der einem Schweizermesser ähnelt: ein praktisches Werkzeug, um sich im Do-it-yourself-Modus die groben Irrtümer unserer Zeit kleinzubiegen.

Für eine Klientel, die Messer vermutlich seltener als Nagelfeilen nutzt, hat der deutsche Philosoph Wolfgang Ullrich sein Buch Haben wollen – wie funktioniert die Konsumkultur geschrieben. Er zeigt, wie das Konsumbürgertum das Bildungsbürgertum ersetzt, wie Dinge heute gemacht werden – und was sie mit uns machen.

Was den Stil anlangt, haben die Bücher von Binswanger und Ullrich wenig gemeinsam. Inhaltlich überschneiden sie sich aber mehrfach, und es macht Sinn, mit dem Licht des eloquenteren Autors die blinden Flecken des Engagierteren ein wenig aufzuhellen. Eine leitende Differenz ergibt sich etwa bei der Einschätzung der Bedeutung der Statusgüter für die wirtschaftliche Dynamik.

Für Binswanger spielen Statusgüter eine zentrale Rolle und er pointiert das mit einem Zitat des Filmschauspielers Walter Slezak: "Viele Menschen benutzen Geld, das sie nicht haben, für den Kauf von Dingen, die sie nicht brauchen, um damit Leuten zu imponieren, die sie nicht mögen."

Ullrich hingegen sieht – nach einer "kopernikanischen Wende", seit der es primär darum geht, sich selbst wohl zu fühlen, und nicht mehr darum, anderen zu gefallen – andere Faktoren als bedeutender an: "Mehr als Gebrauchs- und Statuswert entscheiden Emotions- und Fiktionswert." (Wer einen Geländewagen kauft, macht es also weniger, um damit dem Nachbarn zu imponieren, sondern vor allem, um den eigenen "Möglichkeitssinn" zu beleben.)

Konsequenterweise, so Ullrich, hat daher "die Psychologie seit den 1970er-Jahren die Soziologie nach und nach als Leitdisziplin der Konsumentenforschung abgelöst." Im Zentrum des Interesses steht nicht mehr die Bestimmung von Zielgruppen, sondern die Exploration des Unbewussten. Ein erklärtes Ziele ist zum Beispiel, mithilfe der Analyse von Metaphern "mentale Landkarten" zu erstellen, die Aussagen erlauben, was mit Designs, Produkten oder Marken assoziiert wird. (Surreal anmutende Fernsehspots – etwa mit Menschen, die schweben können, aber zum Fotografieren dann doch einen normalen Fotoapparat benutzen – sind dann die bildlichen Umsetzungen solcher Netzwerke von Metaphern.)

Andere Marktforscher bemühen sich um eine vollständige Bestandsaufnahme der Effekte, die ein Produkt auslöst. Mittels "Verfassungs-Marketing" kreiert man dann Produkte eigens dafür, um in spezifischen Situationen bestimmte psychische Verfassungen der Konsumenten zu stärken. Vorbild dafür könnte jene berühmte Stelle aus Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit sein, in der der Ich-Erzähler eine Madeleine zusammen mit einer Tasse Tee zu sich nimmt: Geschmack und Geruch lösen dabei ein "unerhörtes Glücksgefühl" aus und wecken tief verborgene Erinnerungen. Allerdings führt profaner Konsum natürlich nur sehr selten zu so intensiven Erlebnissen, wie Proust sie schildert.

Denn, hier stimmen Binswanger und Ullrich überein, zwischen der erdrückenden Fülle von Angeboten bleibt weder Platz noch Zeit, um die dazu notwendige "meditative Bereitschaft" aufzubauen. Jederzeit und allerorts ist nämlich Entscheidungsfreude verlangt: Selbst der Kauf von Jogurt wird zu einer "Tyrannei der kleinen Entscheidungen". Von der Wahl des Netzbetreibers ganz zu schweigen: Bevor man alle relevanten Parameter verglichen hat, ist da schon die nächste Handygeneration auf dem Markt – und die Tarife haben sich öfter als dreimal verändert.

Eine paradigmatische Studie (zitiert von Binswanger) vergleicht die Zufriedenheit von Menschen, die die Auswahl zwischen sechs Varianten oder 30 Varianten eines Produkts hatten. "Überraschendes" Ergebnis: Bei sechs Varianten war die Zufriedenheit der Konsumenten größer als bei 30 Varianten. Solange es nur wenige Optionen gibt, erhöhen zusätzliche Optionen die Zufriedenheit. Sobald ein bestimmter Schwellenwert erreicht ist, sinkt die Zufriedenheit wieder.

Es würde der derzeitigen Wirtschaft vermutlich Anpassungsschwierigkeiten bescheren, wenn diese Erkenntnis Konsequenzen hätte. Gefahr, dass demnächst sehr viele Menschen auf die Idee kommen zu begehren, wozu ihre Natur sie anleitet, besteht aber nicht. Unter anderem deswegen, weil die Werbung immer bessere Illusionen gebiert: einem Produkt ausdrücklich entgegengesetzte Qualitäten zu attestieren, zum Beispiel. Kaffee etwa, der gleichzeitig "anregend und entspannend" ist. Statt Logik waltet Magie, und schon ist jede eindeutige Festlegung aufgehoben.

So optimiert die Konsumkultur, nachdem die Grundbedürfnisse gedeckt sind, die Sorglosigkeit. Nach einem Höhepunkt noch alles vor sich zu haben, ist die paradoxe Erwartung, die ständig geweckt wird. Schließlich führt der Wunsch, dass alles möglich bleibt, da sind sich Binswanger und Ullrich im Wesentlichen einig, zur Weigerung, erwachsen zu werden: Wer alles meidet, was die Zukunft prägen könnte, wird ungebunden und ohne Kinder leben. (Das sind Ansichten, die nicht konform mit denen jener Simpel gehen, die auch den Sonntag dem Kommerz widmen wollen.)

Binswangers Schlussfolgerung: "Wir müssen letztlich unsere Idee vom Fortschritt grundsätzlich überdenken. Traditionellerweise wird Fortschritt als Zuwachs an Möglichkeiten und Befreiung von existierenden Beschränkungen verstanden. Ein Fortschritt, der diesen Namen auch verdient, wird in Zukunft aber auch mit der gleichzeitigen Einführung spezifischer Beschränkungen verbunden sein, die uns dabei helfen, unsere Zeit nicht allzu stark mit unnötigen Dingen zu verschwenden." (Peter Jungwirth/ ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 5./6./7.1.2007)