Jeweils montags, mittwochs und freitags eine Stadtgeschichte von Thomas Rottenberg

Es war knapp vor Weihnachten. Und obwohl ihn seine Kinder dazu drängten, ist Herr R. bis heute nicht zur Polizei gegangen. Oder hat dort auch nur angerufen. Weil das, meint der pensionierte Schuldirektor, doch eh nichts bringe. Und vielleicht alles nur ein versehen sei. und weil das Zeit koste, die Polizei sich um so was ohnehin nicht kümmere und überhaupt: Er sei nicht mehr so mobil, zur Polizei zu gehen – und was würden denn die Nachbarn denken, wenn da plötzlich ein Polizeiauto vor seiner Tür stünde. Und so weiter.

Außerdem, fand der Pensionist nachdem er dann vom dritten und vierten Kind – unabhängig von dem was die zuvor befragten Geschwister gesagt hatten – Beton bekommen hatte, sei das doch eh nur eine Lappalie gewesen. Warum er es dann wieder und wieder erzähle und seiner Verwunderung Ausdruck gebe? Egal.

Mercedesfahrer

Herr R. war nämlich angesprochen worden. Auf der Straße. Von einem ihm völlig unbekannten Mann. Nachdem der ihn am Zebrastreifen fast über den Haufen gefahren hatte, sie erzählt Herr R., der etwa 50-Jährige aus seinem Mercedes gesprungen, auf den alten Mann am Stock zugelaufen, habe ihn gefragt, ob ihm eh nichts passiert sei und ihn dann ganz plötzlich erkannt: "Direttore, sind sie es wirklich? Ich bin es, Massimo!" sei es mit rollendem Italo-R. aus dem Mann nur so herausgesprudelt.

Herr R. aber erinnerte sich nicht: Er könne sich leider nicht erinnern. Aber er glaube sicher zu wissen, dass es an seiner Schule eigentlich nie italienischstämmige Kinder gegeben habe. Aber er sei jetzt auch schon fast 25 Jahre in Pension. Massimo aber parierte blendend: "Aber Direttore", soll er geschnurrt haben, "ich habe damals doch geputzt. Bei ihnen in der Firma, also der Schule." Dann verabschiedete er sich, sprang in den Mercedes und fuhr davon.

Kofferraumgeschenk

Am nächsten Tag lief Massimo Herrn R. dann wieder über den weg. Ganz zufällig. Ziemlich genau an der selben Kreuzung. Aber vor lauter Freude über das Wiedersehen, rollte der angebliche Italiener, wolle er dem so plötzlich wieder gefundenen etwas schenken. Eine Lederjacke. Er öffnete den Kofferraum und holte eine Jacke heraus. "Kostet fast 2000 Euro in Geschäft, ich ihnen schenken, Direttore". Und nach einem kurzen Blick in den Kofferraum: "Oder noch besser: nehmen sie zwei. Ist gutes Weihnachtsgeschenk."

Dass er damit beim Thema angekommen war, erkannte Herr R. dann gerade noch rechtzeitig: Er müsse heute noch nach "bella Italia" fahren, habe aber noch kein Geschenk für sein Frau. Ob ihm der Direttore rasch ein bisserl Geld borgen könne? So etwa 700 Euro. Er bekäme es nach Weihnachten wieder – versprochen. Man kenne einander ja. Und wenn der Direttore das Geld nicht bei sich habe, könne er den alten Mann gerne zur Bank fahren. Herr R. – der mittlerweile ziemlich sicher war, dass er nie einen Schulwart oder Schulwartshelfer namens Massimo gehabt hatte – legte die Jacken aufs Autodach, drehte sich um und ging. So rasch das am Stock eben geht.

Ausgehorcht

Kurze Zeit später rief er seine Kinder an: Woher der angebliche Italiener gewusst habe, dass er Schuldirektor sei? Ob es sich denn tatsächlich auszahle einen über 80-jährigen auszuspionieren und so anzuagitieren? Ob er sich fürchten müsse, dass Massimo ihn bis nach Hause verfolgen würde? Erst auf genaues Nachfragen, wie denn das Gespräch wirklich gelaufen sei, erkannte Herr R., dass er selbst Massimo alle Informationen über die gemeinsame Vergangenheit geliefert hatte. Lediglich der "Direttore" war ein Schuss ins Blaue gewesen – angesichts der Wiener Titel-Usancen, der Wohngegend R.s, seinem Alter und seinem Outfit und Auftreten aber nicht wirklich ins Ungewisse.

Was er denn tun solle, wenn ihn der "Schulwart" wieder anspräche, fragte der verunsicherte Pensionist – so wirklich rüstig und wehrhaft sei er ja nun auch wieder nicht. Seine Kinder rieten ihm, in jedem Fall die Polizei zu verständigen. Auch, weil der angebliche Italiener vermutlich nicht nur Herrn R. mit einem Wiedererkenn-und-Jackenschenkschmäh übers Ohr zu hauen versuchen würde. Und der so simpel und blöd klingende Trick nicht doch zöge, würde er wohl nicht so routiniert eingesetzt werden.

Herr R. versprach, es sich zu überlegen. Aber als er einem Nachbarn in der Gegend die Geschichte erzählte und der ihn einfach nur auslachte, beschloss er, nichts zu unternehmen: Vielleicht dann sogar noch von einem Polizisten als seniler Depp verlacht zu werden, meinte Herr R., wäre nämlich eine Kränkung, die schlimmer wäre, als von einem Trickdieb ausgetrickst zu werden.