Foto: The Penguin Press
Seine ersten Bezwinger, die Rezensenten, hatten mit dem Buch "Against The Day", ihre liebe Not.


Wien - Wie ambitioniert darf Literatur heute sein? Wie viel darf sie dem Leser abverlangen? Und wo, bitte, ist der rote Faden? Fragen, die sich bei einem Buch wie diesem aufdrängen. Einem Roman, der es sich erlaubt, unverschämt dick zu sein, praktisch die ganze Welt zu umspannen (sowie einige erfundene Orte und das mythische Shambhala) und ums Verrecken nicht auf den Punkt zu kommen.

Problem, Problem, auch für die Kritiker: Thomas Pynchons Roman "Against The Day" lässt sich schlecht zu ein paar Stehsätzen zusammenfassen. Weil: zu viel Handlung, zu viele Figuren, Themen, Ideen und höhere Mathematik "galore". Und meilenweit keine Mitte oder gar eine erlösende Pointe in Sicht.

Dafür hat der Roman, um einmal irgendwo an diesem Monstrum anzusetzen, sehr viele kleine Pointen, auffallend viele davon derb-sinnlicher Natur. Wir schlagen das Buch auf Seite 666 auf und beobachten einen Mann, der ein Schoßhündchen zum Oralsex auffordert. Dem kommt das Tier gerne und mit Biss nach.

Wenn manche Witze aus diesem Kuriositätenkabinett ein bisschen forciert wirken, dann, weil sie es sind: kurze Ausflüchte auf dem langen Weg zu einer Katastrophe, auf die der im Vorfeld des Ersten Weltkriegs angesiedelte Roman zusteuert. "Against The Day" erzählt mit dem Witz der Verzweiflung gegen eine Düsternis an, die kein Licht aufzuhellen vermag. "It's always night, or we wouldn't need light", fungiert ein Zitat von Thelonious Monk als Motto.

43 Jahre nach "V.", 38 nach "The Crying Of Lot 49", 33 nach "Gravity's Rainbow", 16 nach "Vineland" und neun nach "Mason & Dixon" ist "Against The Day" mit 1085 Seiten der längste Roman des zurückgezogen lebenden US-Autors. Mit Ende 60 schreibt Pynchon kein Alterswerk, sondern unermüdlich an seiner alternativen Geschichte der modernen Welt weiter, in der sich Anarchisten und Mathematiker tummeln, beflügelt von hochtrabenden Ideen, lustigen Zigaretten, Kaffee und zu wenig Schlaf.

Die ersten Rezensionen haben sich denn auch auf den Umfang des Romans eingeschossen. Der Kritiker des Time Magazine eruierte, dass dieser "drei Pfund und sechs Unzen" wiege, etwa so viel wie sein Toaster. Bei diesem wisse er jedoch, was am Ende herauskomme. Der britische Observer wagte die - vorsichtige - Schätzung, der Leser müsse sich für das Buch "einen Monat lang zwei Stunden pro Tag freinehmen".

Hastige Lektüren

Die Rezensenten hatten wenig(er) Zeit. Spät schickte der Verlag Rezensionsexemplare aus, hastig musste geurteilt werden. Schnellschüsse waren die Folge. Lobeshymnen lasen sich wie ausgeschmückte Varianten des Ankündigungstexts, den Pynchon selbst im Sommer ins Internet gestellt hatte (der Standard berichtete). Verrisse wie jener in der New York Times verrieten mehr über die Nöte der Kritiker und die Zwänge des Literaturbetriebs als über das Buch.

Worauf darf sich der mutige Leser aber nun freuen? Wenn man eine Konstante in "Against The Day" ausmachen will, dann bildet sie die Familie Traverse. Webb, deren Oberhaupt, kämpft als anarchistischer Bombenleger um 1900 gegen ausbeuterische Unternehmen. Scarsdale Vibe, ein skrupelloser Kapitalist, lässt ihn aus dem Weg räumen. Webbs Frau, die drei Söhne und seine Tochter versuchen - verstreut in alle Winde und jeder für sich -, mit dem Verlust fertig zu werden.

Das rastlose Personal wandert von Colorado und Mexiko nach New York, London, Göttingen, Venedig, Wien (Fiakerfahrten, Tortenexzesse, aber auch Judenhass, angestachelt vom christlich-sozialen Bürgermeister Karl Lueger), Asien und Alaska, wo 1908 das bis heute ungeklärte Tunguska-Ereignis den Himmel erhellt. Ein Meteorit? Ein Versuch mit neuartigen Waffensystemen?

Zusammengehalten wird der Roman neben seiner fast durchwegs brillanten, jargonreichen Sprache von einer Gruppe jugendlicher Ballonfahrer, die an allen Schauplätzen präsent ist, über den Ereignissen schwebend. Was als launige Parodie auf Abenteuerromane beginnt, verliert bald seine Unschuld. Die Missionen der Chums Of Chance und ihres Luftschiffs mit dem sprechenden Namen Inconvenience gestalten sich zunehmend dubios. Da unten braut sich etwas zusammen.

Der Erste Weltkrieg selbst ist dann mit wenigen Sätzen abgehandelt. Er scheint Pynchon nicht mehr zu interessieren, ebenso wenig die Gegenwart und 9/11. New York und der Rest der Welt sind bei ihm schon viel früher untergegangen.

"We're in hell, you know", sagt eine Figur gegen Ende beiläufig. "The world came to an end in 1914." Und die Welt, durch die wir heute stolpern? "Illusion." Ein schlechter Witz, wie ihn nicht einmal Pynchon, der große Fabulierer, sich hätte ausdenken können. Umso fester klammern wir uns an seine Bücher. (Sebastian Fasthuber / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30./31.12.2006/1.1.2007)