"Vagina-Dialog" in Jelineks "Ulrike Maria Stuart", Thalia-Theater, Hamburg

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Vor wenigen Tagen wurde bekannt: Marlene Streeruwitz klagt gegen die Hamburger Aufführung des Jelinek-Stückes "Ulrike Maria Stuart", weil ihr der Regisseur in der Inszenierung einen dramaturgisch heiklen Auftritt reserviert hat. Er hat Passagen eines Gesprächs von Jelinek und Streeruwitz in die Inszenierung hineinmontiert und die Streeruwitz-Sätze werden von einer sprechenden Vagina vorgetragen. Streeruwitz sagt nun, sie wolle so nicht vorkommen. Sie sieht sich als Opfer eines Regisseurs. Das ist nicht ohne Komik und auch nicht ohne Logik, ist Streeruwitz ja die Literatin des Opfertums.

Streeruwitz' vielfach preisgekrönte Opferliteratur, die gewissermaßen die Anerkennung und Würdigung des Opfers zum Ziel hat, zeigt oft die Kehrseite des Opferdiskurses: die Selbstviktimisierung. Wenn alles Denken um das Opfer-Sein kreist, dann ist der Status des Opfers die hehrste aller denkbaren Positionen. Deswegen würde, so Streeruwitz' Klage, von faschistisch-patriarchalischen Strategien den Opfern auch noch ihr Opfer-Sein abgesprochen. Zuletzt führte Streeruwitz das in einem langen Essay über das Entführungsopfer Natascha Kampusch aus. Die Medienstrategie Kampusch' und ihrer - männlicher - Berater beruhte ja schließlich darauf, die Autonomie, das Nicht-Opfer-Sein, noch in der Situation existenzieller Gefangenschaft herauszustreichen. Hier würde "vermieden", "verdrängt", so Streeruwitz, alles nur, wegen der "Unfähigkeit, Opfer denken zu können".

Wie auch immer man dazu stehen mag, die immer heikle, aber gesellschaftlich unübersehbare Thematisierung des Opfertums ist mit Sicherheit ein interessanter Topos. Es gibt, ohne Zweifel, Opfer. Und es gibt ohne Zweifel auch eine Lust zur Selbstviktimisierung. Es gibt Opfer, die sich aus der ihnen zugedachten Opferrolle herausarbeiten wollen. Und es gibt Opfer, für die der Opferstatus der einzige Status ist, der für sie überhaupt noch erreichbar scheint.

Und dann gibt es den Umschlag von Selbstviktimisierung in Rachefantasien - und gelegentlich in Gewaltexzesse. Dies hat sich diese Woche wieder einmal auf erschütternde Weise gezeigt. Der Abschiedsbrief des jungen Amokläufers Sebastian B., der schwer bewaffnet in seine ehemalige Schule in Emsdetten stürmte, fünf Menschen verletzte und sich dann selbst erschoss, ist ein ziemlich unfassbares und gerade deshalb lesenswertes Zeitdokument, das nicht einfach im digitalen Archiv unserer Zeit vergraben werden sollte. Sebastian B., der sich als Opfer der Gesellschaft empfand, und keine kollektiven Strategien für den Weg aus der Opferposition mehr erkennen konnte, schrieb:

"Wenn man weiß, dass man in seinem Leben nicht mehr Glücklich werden kann, und sich von Tag zu Tag die Gründe dafür häufen, dann bleibt einem nichts anderes übrig als aus diesem Leben zu verschwinden. Und dafür habe ich mich entschieden. Es gibt vielleicht Leute die hätten weiter gemacht, hätten sich gedacht "das wird schon", aber das wird es nicht. Das einzigste was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe war, das ich ein Verlierer bin. Für die ersten Jahre stimmt das sogar, ich war der Konsumgeilheit verfallen, habe danach gestrebt, Freunde zu bekommen, Menschen die dich nicht als Person, sondern als Statussymbol sehen. Aber dann bin ich aufgewacht! Ich erkannte, dass die Welt, wie sie mir erschien, eine Illusion war, die hauptsächlich von den Medien erzeugt wurde. Ich merkte mehr und mehr, in was für einer Welt ich mich befand. Eine Welt, in der Geld alles regiert, selbst in der Schule ging es nur darum. Man musste das neuste Handy haben, die neusten Klamotten, und die richtigen "Freunde". Hat man eines davon nicht, ist man es nicht wert, beachtet zu werden. Und diese Menschen nennt man Jocks. Jocks sind alle, die meinen aufgrund von teuren Klamotten oder schönen Mädchen an der Seite über anderen zu stehen. Ich verabscheue diese Menschen, nein, ich verabscheue Menschen. Ich habe in den 18 Jahren meines Lebens erfahren müssen, dass man nur Glücklich werden kann, wenn man sich der Masse fügt, der Gesellschaft anpasst. Aber das konnte und wollte ich nicht. Vielleicht hätte mein Leben komplett anders verlaufen können. Aber die Gesellschaft hat nunmal keinen Platz für Individualisten. Ich meine richtige Individualisten, Leute die selbst denken. Mir wurde bewusst dass ich mein Leben lang der Dumme für andere war, und man sich über mich lustig machte. Und ich habe mir Rache geschworen!"

Sebastian B. explodierte, weil er sich als Opfer sah. Die Süddeutsche Zeitung wies darauf hin, dass unter Jugendlichen "Du Opfer" eine beliebte Injurie ist. Das erinnert mich daran, dass im Roman "Rabe Baikal" meines verstorbenen Freundes Thomas Strittmatter eine der interessantesten Figuren nur "das Opfer" hieß, "das Mädchen, das allgemein das Opfer genannt wurde".

Dieses zum Opfer werden, das auf seltsame Weise oft damit einher geht, sich zum Opfer zu stilisieren, was wiederum nicht selten umschlägt in einen moralischen Rigorismus, in eine Wahrheit, die alleinige Wahrheit, die die Wahrheit des Opfers ist, das sich wegen seines Opferschicksals zu allem berechtigt fühlt - das ist ein Thema, das wir nicht ignorieren sollten. Möglich, dass, wie in der SZ zu lesen, "die Enttäuschbarkeit des Menschen zugenommen hat". Möglich auch, dass der Druck auf den Einzelnen "maßlos" geworden ist, wie der Soziologe Heitmeyer schreibt, weil diesem keine kollektiver Ausweg mehr zur Verfügung steht, wenn es einmal nicht mehr so rund läuft.

In der Geschichte zeigte sich, dass Menschen, mögen sie auch auf grauenhafteste Weise Opfer gewesen sein, immer wieder danach trachteten, diese Opferrolle zu überwinden, und umso mehr danach trachteten, je besser sie sich noch gesellschaftliche Strategien vorstellen konnten, die die Herstellung einer sozialen Ordnung begünstigen könnten, dass niemand mehr Opfer würde.

Ist es ein Zufall, dass mit dem Verlust solcher Strategien die Wahl des Opferstatus aber plötzlich zu einer Distinktionsstrategie wurde, zu einer Strategie, sich aus dem Mainstream zu erheben? Und: Wenn man sich selbst nur mehr als Opfer denkt, führt das dann womöglich zu einem Tunnelblick, der nichts anderes mehr in sein Gesichtsfeld lässt? Vielleicht sollten wir zur Abwechslung einmal darüber nachdenken und uns die ewigen Diskussionen sparen, ob Computerspiele die Kids zu Killern machen. (DER STANDARD Printausgabe, 25./26.11.2006)