Zur Person
Dr. Raoul Hoffer LL.M. (London) ist Rechtsanwalt und Partner von Binder Grösswang Rechtsanwälte. Seine Fachgebiete sind Kartellrecht, Vergaberecht, Beihilfenrecht und Energierecht.

hoffer@bgnet.at

Foto: Standard/Binder Grösswang
Die Europäische Kommission hat nun einen Entwurf einer neuen Mitteilung betreffend die "EU-Kronzeugenregelung" in Kartellsachen (auch "Leniency Programme" genannt) vorgelegt. Eine solche Mitteilung gilt als authentische Auslegung der Verwaltungspraxis und bindet daher die Kommission.

Die EU-Kronzeugenregelung belohnt die Anzeige eines Kartells durch einen der Beteiligten mit einem Erlass bzw. einer Ermäßigung der bei Aufdeckung eines Kartells drohenden Geldbußen. Zumal diese Geldbußen sehr hoch angesetzt sind: Beispielsweise wurde im Jahr 2001 eine Geldbuße von 462 Millionen Euro gegen die Hoffmann - La Roche AG (Schweiz) wegen Beteiligung am "Vitaminkartell" verhängt. Dadurch ist der Anreiz, aus dem Kartell auf diese Weise auszusteigen, relativ groß. Die EU-Kommission setzt hier bewusst auf die Unsicherheit und den psychologischen Druck, den eine solche Regelung unter den Kartellanten erzeugt, zumal nur der Erste, der sich an die Kommission wendet, auch mit einem gänzlichen Erlass der Geldbuße rechnen kann. Von 2002 bis 2005 haben 167 Unternehmen von der EU-Kronzeugenregelung Gebrauch gemacht.

Allerdings hat die derzeitige Regelung einige Probleme aufgeworfen. Das betrifft insbesondere den Umstand, dass jeder EU-Mitgliedstaat ein eigenes Kartellrecht hat und damit auch eine eigene Kronzeugenregelung; in Österreich wurde diese mit 1. Jänner 2006 eingeführt. Zumal viele Kartelle international agieren und daher nach dem Kartellrecht mehrerer EU-Mitgliedstaaten strafbar sind sowie - bei besonders gravierenden Fällen - zusätzlich eine Zuständigkeit der Europäischen Kommission vorliegen könnte, sind "auskunftswillige" Unternehmen gezwungen, teilweise sehr umfangreiche Anträge auf Gewährung der Kronzeugenregelung in mehreren EU-Mitgliedstaaten und bei der EU-Kommission gleichzeitig zu stellen. Oft stellt sich dann erst im Nachhinein heraus, welche Wettbewerbsbehörde den Fall effektiv bearbeitet und daher die "richtige" Anlaufstelle gewesen wäre.

Um dieses Prozedere zu erleichtern, können Unternehmen nun bei der Europäischen Kommission zunächst einen so genannten "Marker" erhalten, der ihnen die zeitliche Priorität ihres Antrags - und damit die Möglichkeit eines Erlasses der Geldbuße - wahrt. Die Beantragung des Markers erfolgt in einem vereinfachten Verfahren. Die vollständigen Informationen müssen dann erst später nachgeliefert werden.

Wettbewerbsnetz

Um diese Vorgangsweise auch auf nationaler Ebene zu implementieren, ist in einem jüngst veröffentlichten Kronzeugenregelungsmodell des Europäischen Wettbewerbsnetzes (European Competition Network - ECN), das alle nationalen EU-Wettbewerbsbehörden vereint, eine Parallelregelung für die Beantragung eines Markers bei den jeweilig in Betracht kommenden nationalen Wettbewerbsbehörden enthalten.

Zwei weitere Schwerpunkte der neuen Kronzeugenregelung der EU-Kommission sind der Ausschluss der Akteneinsicht für Dritte und die detaillierte Beschreibung der Mitwirkungspflichten der Kronzeugen. Ersteres ist wichtig, zumal die Kronzeugen ansonsten befürchten müssten, dass die von ihnen zur Verfügung gestellten Unterlagen im Rahmen von Schadenersatzansprüchen gegen sie verwendet würden.

Zu Letzterem wird eine umfassende Mitwirkungspflicht der Kronzeugen während des Kartellverfahrens (was unter Umständen auch Mitarbeiter des Unternehmens erfasst) festgelegt. Ein besonders interessanter Aspekt ist hier, dass Unternehmen, die von der Kronzeugenregelung profitieren wollen, Unterlagen, die als Beweis für das Kartell dienen können, nicht vernichtet haben dürfen. In Hinkunft wird daher die Überlegung eines Unternehmens, kartellrechtlich belastende Unterlagen zu vernichten, auch immer von der Frage begleitet sein müssen, ob sich die betreffenden Unternehmen damit nicht den Weg in die Straffreiheit verbauen.

Schweigepflicht

Zudem dürfen Unternehmen, die eine Kronzeugenregelung erwägen, dies ausschließlich mit den Wettbewerbsbehörden erörtern. Die bloße Erwähnung gegenüber einem anderen Mitglied des Kartells - z. B. um herauszufinden, ob diese ähnliche Schritte planen - würde unter Umständen schon dazu führen, dass der Vorteil der Kronzeugenregelung wegfällt. Der psychologische Druck, der durch die Kronzeugenregelung entsteht - also die Frage, ob die anderen Kartellan- ten möglicherweise selbst bereits einen "Absprung" planen -, soll so gezielt erhöht werden.

Die Mitteilung der Europäischen Kommission und die neue ECN-Modellregelung für Kronzeugenprogramme würden bei entsprechender Umsetzung tatsächlich einen Schritt in Richtung Vereinfachung und Harmonisierung der unterschiedlichen Kronzeugenprogramme darstellen. Die Attraktivität eines "Ausstiegs" aus einem Kartell wird dadurch stark erhöht. Von der Schaffung einer zentralen EU-weiten Anlaufstelle für die Beantragung des Kronzeugenprivilegs ist man hier jedoch noch weit entfernt. (Raoul Hoffer, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23.11.2006)