"Schmeck's" ist keine professionelle Lokalkritik. Harald Fidler und Freunde schildern hier ihre Erlebnisse beim Essen und Trinken. Als Dilettanten im Wortsinn: Laien, Amateure, Nichtfachleute, die eine Sache um ihrer selbst willen ausüben - also zum reinen Vergnügen. Was nicht immer gelingt.

Foto: Fidler
"Ich habe schon gewusst, warum wir hierher gehen sollten", sagt meine charmante Begleiterin, als sie mitbekommt, wie sich mein Blick auf der Speisekarte des neu übernommen "Vikerl’s Lokal" festfrisst. Ich bin zerrissen zwischen zwei Menüvorschlägen, die beide ihr Für und Wider haben. Doch das Dessert macht die Entscheidung leicht: Ich winsle entzückt und in Vorfreude auf und ernte den ersten indignierten Blick meines Vis-a-Vis. Langsam begreift sie, worauf sie sich eingelassen hat.

Das Menü ist hervorragend, keine Frage. Jakobsmuscheln, Gänseleber, Wild, das volle Programm. Dennoch werde ich mit fortschreitendem Abend immer unruhiger. Die Bezeichnung in der Karte war nicht ganz eindeutig gewesen. Ist meine Phantasie mit mir durchgegangen? Habe ich meine Erwartungen zu hoch geschraubt? Hat der Koch die gleichen Visionen und Fieberträume wie ich? Oder kommt nun womöglich etwas an meinen Tisch geschwebt, das ich nach einem ersten Blick gekränkt und unberührt erkalten lassen werde?

Feuchtwarmes Etwas

Die Dessertteller werden gebracht. Das Äußere meines Traums: unscheinbar, wenig verheißend. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, erst der nähere Augen- und Gaumenschein wird offenbaren, ob ich heute Abend glücklich werde. Zunächst also ein vorsichtiges Abklopfen mit der Kuchengabel. Oh ja, da gibt es Hinweise auf jenen Aggregatzustand, für den die Physik noch keinen Namen gefunden hat.

Dann ein erster Stich: Die Zinken finden Widerstand, aber der ist sinnlos, die Hülle birst, und nach wenigen Millimetern dringt die Gabel in ein feuchtwarmes Etwas, von dem ich weiß, dass es mich sehr, sehr glücklich machen wird. Ich seufze hörbar auf und kassiere den nächsten, diesmal besorgten, Blick meiner Begleiterin. Während die Gabel das Innere teilt und die flüssigfestsüße Masse sich kaum widersetzt, breitet sich betörender Duft aus.

Sex an öffentlichen Orten

Jetzt gibt es kein Halten mehr: Der erste Bissen, und mir entkommt ein Guttural-Laut, der den Synchronsprechern, die der Samstag-Mitternachts-Ware einiger Privatsender ihre Stimme leihen, alle Ehre machen würde. Ich schaue mich um. Die beiden Herren am Nachbartisch sehen leicht indigniert weg. Der Blick meiner Abendbegleitung jedoch sagt eindeutig: "Reiß Dich zusammen!"

So muss Sex an öffentlichen Orten sein, denke ich mir. Warum verbietet uns die Konvention, außergewöhnliche Genüsse auszuleben? Doch in den folgenden drei Minuten halte ich mich zurück – soweit es die Materie, mit der ich befasst bin, zulässt. Bei der Zigarette danach ist meiner Begleiterin die Erleichterung anzumerken, dass ich mich nicht all zu übel benommen habe. Wir werden nicht des Lokals verwiesen, nur der Kellner zwinkert mir verschwörerisch zu, als er den Kaffee bringt und meinen entrückten Gesichtsausdruck sieht.

Nächstes Mal: laut und hemmungslos

Was ist es nur, das diesen unwiderstehlichen Reiz ausmacht? Die Mischung aus Süße und leichter Bitternis? Die Wärme, die von der Masse ausgeht? Dieser Widerstand, den man bezwingen muss, um an den halbflüssigen Kern vorzudringen? Der Duft, der sich nach dem ersten Vorstoß ausbreitet? Eines steht jedenfalls fest: Den nächsten halbflüssigen Schokoladenkuchen mache ich selbst. Bei mir daheim. Wo mir niemand indignierte Blicke zuwirft. Und wo ich laut und hemmungslos sein darf.