Obwohl: Eigentlich habe ich mich auch geärgert. Weil ich zuerst „Murmel“ und dann erst „Glaskugerl“ gedacht habe. Und weil ich ein bisserl brauchte, um mich daran zu erinnern, dass wir damals eben keinen eigenen Begriff für Glaskugeln hatten. Aber halt trotzdem nicht Murmeln gesagt haben: Murmeln war leises reden, aber ganz bestimmt nicht Kugerlscheiben.
Kindervokabel
Egal. Der Derwisch konnte das ja nicht wissen. Weil er nicht von hier ist. Also nicht so von hier, wie ich von hier bin. Obwohl das auch wurscht ist – aber Kugerlscheiben hat der Derwisch halt nicht in Wien, sondern irgendwo anders gelernt. Als Kind. Wenn überhaupt. Entweder in Deutschland. Oder in der Türkei. Oder im arabischen Raum. Und dass er dann, jetzt, hier, von Murmeln sprach, ist so gesehen eh ok.
Die Glaskugel, hat der Derwisch gesagt, würde mich, sobald sie mir in die Finger käme, erinnern. Daran, dass nichts so ernst und wichtig ist, dass man nicht ständig versuchen sollte, sich daran zu erinnern, wie es war, als man noch ein Kind war. Und mit offenen Augen, offen Ohren und offenem Herzen durch die Welt ging. Und bereit war Zeit zu haben, zuzuhören und Wunder einfach zu akzeptieren. Und dann begann der Derwisch zu erzählen.
Kein Tschinbumm
Wir waren – A. hatte das einfach so beschlossen und hatte gleich ein paar Freunde mitverpflichtet – am Boden gesessen. In einem kleinen Theater. Der Derwisch war auf die Bühne gekommen und hatte das unspektakulärste vom Unspektakulären zu tun begonnen: Er erzählte Geschichten. Ohne Brimborium, Effekte und sonstigen Tschinbumm
Sicher: da war seine Pluderhose und sein Mantel. Teppiche und Pölster. Eine Dame ging herum und servierte Tee. Und ein bisserl Ethnokitsch (wir saßen mit ausgezogenen Schuhen am Boden und meine Beine schliefen ein. Weil ich das nicht gewohnt bin und Jeans nicht zum stundenlangen kauern, knien und hocken geschneidert werden.) gab es auch – aber eigentlich war das egal. Denn der Derwisch erzählte – und wir, also das ganze kleine Theater, hörten zu. Einfach nur zu. So, als hätten wir das nie verlernt.
Fabeln
Derwisch erzählte Geschichten. Geschichten von kleinen und großen Menschen. Geschichten vom Alltag. Geschichten von bekannten und unbekannten Geschichtenerfindern. Geschichten mit und ohne Moral. Geschichten aus Damaskus, Istanbul und der ganzen Welt, die da dazwischen liegt. Irgendwann kam mir eine Geschichte bekannt vor. Es war eine Fabel, in der es um Engstirnigkeit und Selbstherrlichkeit ging. Mit kleinen Abweichungen hatte ich genau diese Fabel schon anderswo gehört. Oder gelesen. Aber das machte nichts. Im Gegenteil: Dass ich das in einem Buch mit skandinavischen Märchen vor Ewigkeiten schon einmal gelesen hatte, machte die Erzählung des Derwischs nur noch schöner. Weil es zeigte, dass Menschen überall gleich sind. Gleich klug, gleich dumm oder gleich borniert.