Jeweils montags, mittwochs und freitags eine Stadtgeschichte von Thomas Rottenberg

Es war gestern. Da saß W. dann mit Ausdrucken der seltsamsten Postings auf die letzte Stadtgeschichte in meiner Küche und war verwundert. Und wir wunderten uns, dass er sich wunderte. Aber das ist halt eine Frage der Gewöhnung – und für W. war es eben das erste Mal gewesen, dass er hier vorgekommen war.

Vielleicht lag es ja auch an unserer Abgestumpftheit, dass es W. vorbehalten blieb, zu entdecken, was er „den austro-katholischen Approach“ nannte: Es sei, blätterte sich der Kollege von der Wochenzeitung durch die Postings, nämlich faszinierend, mit welcher Inbrunst da von jedem, der mutmaßlich mehr verdiene als der klassische Supermarktregalbetreuer, Demut, Unterwerfung und Ergebenheit gefordert werde.

Schuldig

Denn, liest W., in dem, was da gepostet werde, gehe es ja nie um Selbstverständlichkeiten wie Respekt, Höflichkeit oder die ganz normale Mindest-Freundlichkeit dem Mitmenschen gegenüber, sondern darum, sich schuldig zu fühlen. Prinzipiell und a priori. Weil man es ja besser hat. Wenn auch nur mutmaßlich. Und daraus, wunderte sich W., werde dann ein ideologisches Korsett geschnürt, in dem Böses, Unangenehmes Unsympathisches oder Ärgerliches nur dann erwähnt, wenn es oberhalb der eigenen Sozialschwelle stattfindet: Ein mit dem SUV-Porsche eine kinderwagenschiebende Kopftuchfrau am Zebrastreifen schneidender Schnösel ist demnach zu Recht ein Arsch – aber ein ungewaschener, röhrender, Körperdüfte aus allen Öffnungen und Kleidern allen Mitreisenden im übervollen Autobus aufdrängender Geselle, der rempelt und spuckt, immer ein bedauernswertes Opfer des Systems. W.s Fazit: „Schöne, schlichte Posterwelt.“

Dabei, setzte W. fort, sei das eigentlich eine sehr katholische Perspektive. Oder „Radfahren in Rückenlage“. Aber vor allem idiotisch: Es sei doch egal ob jemand mit schlechten Manieren billige oder teure Schuhe trage. Oder welche Hautfarbe so einer habe: Ärgerlich sei es allemal.

Sozial-Timing

Aber das, erklärte W., sei nicht alles, was ihn erstaune. ER sei nämlich „gleichzeitig be- und entgeistert“, dass er aufgefordert werde, aus prinzipiell-solidarischen Überlegungen sein Einkaufsverhalten so zu timen, dass Verkaufspersonal mit dem Gongschlag wie Beamte der 70er-Jahre alles fallen lassen könnten. Obwohl das doch eine eklatente Ungleichbehandlung darstelle: Von ihm werde schließlich auch erwartet, dass er Kunden, Informanten oder Mitarbeiter nicht während einer Besprechung aus dem Zimmer schmeiße, wenn die Uhr zeige, dass er heute das im Arbeitsvertrag stehende Zeitplansoll erfüllt habe. Er lege da auch nicht einfach das Telefon auf: Wenn er seine Planung nicht so im Griff habe, rechtzeitig fertig zu werden, lasse er das nicht an seiner Umwelt aus. Meint W.

Dieses Mindestmaß an Planung, sagt W., erwarte er auch als Konsument. Und in der Regel funktioniere das ja auch: Viele Ämter, Schwimmbäder oder Schilifte etwa, würden es ja längst schaffen zu kommunizieren, wann der letzte Kunde eingelassen wird – danach werde eben nur noch abgefertigt. Ohne Hektik, Eile und Hast. Und meistens, meinte W., funktioniere das ja auch im Einzelhandel klaglos: Wer zur angeschlagenen Geschäftssperrzeit im Laden ist, der werde bedient. Aber mit ein bisserl Klassenkampf-Attitüde und Steinzeit-Lagerdenken, seufzte W., könne man daraus bestimmt ganz leicht ein echtes Problem zaubern.

Stoßzeitenvermeidungspflicht

Dass von ganz normalen Kunden an ganz normalen Einkaufstagen daher in Postings ein Zeitmanagement gefordert werde, dass dem Regalbetreuer das Kittelausziehen zur Sperrstunde garantiere, sei für ihn deshalb „kurios“. Und dass das mit einer unterstellten sozialen Besserstellung des Kunden gegenüber dem Regalsklaven argumentiert werde, „ziemlich bizarr“. Aber das allertollste, so W., wäre schon der Hinweis, dass man Menschen, die einen Job angenommen haben, von der per Definition besagt, dass an bestimmten Tagen und zu bestimmten Zeiten ziemlich viele Menschen kommen könnten, genau zu diesen Tagen und zu diesen Zeiten tunlichst nicht behelligen dürfe. Aus Solidarität. Weil es ihm doch so viel besser gehe. Oder so ähnlich. W.: „Äh, geht´s noch?“

W. saß in meiner Küche, nippte an seinem Glas und kratze sich am Kopf: „So selbstkasteiend-moralisierend waren nicht einmal die Mönchlein an meiner Schule. Aber die hatten ja auch noch kein Internet – denen genügte es, uns Schüler in diesen ständigen Du-mußt-dich-immer-schämen-Wettstreit hinein zu zetern. Nach einem halben Jahr haben wir die dann nur noch für einen Haufen Irrer gehalten – und nichts von dem, was sie sagten ernst genommen. Auch nicht, wenn sie gar nicht so weit daneben lagen.“ Die anderen in der Runde sahen einander über den Tisch wissen an: W. war halt das erste Mal in einer Stadtgeschichte vorgekommen – er wird sich schon noch an die Nebengeräusche gewöhnen.