Zehntausende Akten der "Zentralstelle für jüdische Auswanderung", einschließlich der Transportlisten mit den Namen jener Österreicher, die ab 1939 in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert worden waren, verschimmelten in einem Wiener Archiv. Von Standard-Autor Hubertus Czernin. Bald nach ihrer Befreiung aus dem KZ Theresienstadt im Mai 1945 kehrte die gebürtige Pragerin Hermine Schick nach Wien zurück, wo sie viele Jahre lang mit ihrem Ehemann gelebt hatte. "Ich fand", so schrieb die 79-Jährige wenige Monate später an die "löbliche Finanzlandesdirektion", "meine ehemalige Wohnung von Fremden besetzt, total ausgeräumt, Möbel, Wäsche etc. von den Nazis 'beschlagnahmt'. Nun stehe ich entblößt von jedem Besitz, den ich mir durch mehr als ein halbes Jahrhundert durch Fleiß und Sparsamkeit geschaffen, ganz mittellos da, auf die Gastfreundschaft meines arischen Schwiegersohnes angewiesen, der selbst mit seiner Frau resp. meiner Tochter in einem unzulänglichen Atelier haust, da auch er in der Nazizeit seine Wohnung verlor, und durch meine Anwesenheit noch mehr eingeschränkt ist." "Mein seit mehr als 13 Jahren verstorbener Gatte war durch 43 Jahre bei der Mer-kurbank (dzt. Länderbank) als Oberbeamter tätig, von welcher Stelle ich nach ihm eine Pension in der derzeitigen Höhe von RM 76,- beziehe. Durch mein wie oben erwähntes einfachstes Leben war ich in der Lage, mir ein Sparbuch anzulegen. Auch dieses wurde mir bei meiner Zwangsverschickung seitens des dortamtlichen Nazikommissars Brunner weggenommen. Ich bitte daher untertänigst eine löbliche Finanzlandesdirektion, mir mein zu Recht zustehendes Sparbuch durch gütige Intervention baldigst zukommen zu lassen, da ich zum Zwecke dringendster Anschaffungen meines Geldes bedarf." "Nur für Mittellose" Die Beamten der löblichen Finanzlandesdirektion taten nichts dergleichen. In einem Aktenvermerk hielten sie bloß fest, "dass nach den Weisungen des Ministeriums nur an vollkommen mittellose Personen Unterstützungen abgegeben werden können. Frau Schick bezog eine Pension, und so konnte ihr Ansuchen nicht berücksichtigt werden." Einige Wochen zuvor hatte die alte Dame von der Ersten Österreichischen Sparkasse Antwort erhalten, was aus ihrem Sparbuch geworden war: Der Saldowert von RM 6870,- sei über Auftrag des Inspekteurs der Sicherheitspolizei und des S.D. in Wien, Abwicklungsstelle für jüdische Auswanderung Wien, am 15. Jänner 1943 an die Länderbank Wien, Zweigstelle 29, Sonderkonto "Judenumsiedlung", überwiesen worden. Zum Zeitpunkt der Banküberweisung war Hermine Schick bereits vier Monate lang in Theresienstadt, nachdem die damals 76-Jährige am 10. September 1942 als eine von 990 Juden aus Wien in das sechzig Kilometer nördlich von Prag gelegene und "Muster-Getto" genannte Konzentrationslager deportiert worden war. Nur drei Personen dieses Transportes überlebten. Hermine Schick war trotz ihres Alters eine davon. Losungswort "Parsival" Die detaillierten Angaben über die betagte Dame befinden sich in einem siebenseitigen Akt, der seit vergangenem Frühjahr im Archiv der Republik einzusehen ist. Sieben Seiten, auf denen der Tag der Deportation festgehalten ist, ebenso die Abgangsnummer des Transportes (40); dazu Hermine Schicks Transportzahl (818); ihre Kennnummer (B 003655); ihre Vermögenslage (Bargeld: 153 Reichsmark; Pension Berlin: 77 RM; Pension Länderbank: 77 RM) einschließlich der Sperrkonten und Sparbücher (1 Sparbuch Erste Österr. Sparkasse: 6700 RM); dazu die Anweisung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung an die Erste Österreichische Sparkasse, die auf dem Sparbuch mit dem Losungswort "Parsival" befindlichen Geldwerte auf ein bei der Länderbank geführtes Sonderkonto "Judenumsiedlung" Nr. 29803 "unter genauer Wiedergabe des Aktenzeichens XL/818" zu übertragen. Schließlich ein Kontenblatt für Schick Hermine, Wien I., Wollzeile 17, Akten-Nr. XL/ 818: Demnach war ihr am Tag der Deportation das Bargeld - 153 Reichsmark - abgenommen und auf das Länderbank-Sonderkonto eingezahlt worden. Der Eingang aus dem Sparbuch bei der Ersten Österreichischen erfolgte am 20. Jänner 1943: 6870 RM, sodass in Summe 7023 RM als Gesamtkontostand auf Frau Schicks Kontoblatt festgehalten wurde. Hermine Schicks Akt lag bis zu Jahresbeginn in der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland - als einer von Zehntausenden Akten, die Auskunft geben über jene jüdischen Bürger in Österreich, die seit Oktober 1939 in insgesamt 45 Haupt- und 27 kleineren Transporten von Wien aus in die Konzentrations- und Vernichtungslager des Dritten Reichs deportiert worden sind. In der Finanzlandesdirektion lagen auch jene Personenlisten von zumindest 40 Deportationstransporten aus Wien, die - nach zwei ersten Zwangsverschickungen im Oktober 1939 und beginnend mit "Transport I - 15. 2 .1941 nach Deblin" sowie den jeweils in numerischer und alphabetischer Reihung registrierten Namen der Deportierten - seit mehreren Monaten vom Archivar Hubert Steiner und zwei Mitarbeitern aufgearbeitet und geordnet werden. Von vielen in die Todeslager deportierten Opfern liegen auch die Akten über deren wirtschaftliche Lage und die letzte Phase der Vermögensentziehung bei, so wie sich diese unmittelbar vor der Zwangsverschickung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung darstellte. Tatsächlich lässt sich das, was da an Materialien zur Rekonstruktion der Vernichtung der österreichischen Juden mit einer Verspätung von mehr als einem halben Jahrhundert ans Tageslicht geholt wurde, nur schwer in Worte fassen: Jahrzehntelang waren diese Akten im Keller der Finanzlandesdirektion in der Wiener Wollzeile gelegen, manche schon angeschimmelt, der eine oder andere sogar leicht angesengt. Die Einzelseiten einiger Transportlisten hingegen sind zum Teil pedantisch mit Schnüren zusammengebunden. Muzicant schockiert Dem Inhalt und Umfang der Akten entsprechend ungläubig reagierte der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Ariel Muzicant, als er am Mittwoch vom STANDARD über die Deportationsdokumente informiert wurde: "Wie ist das möglich? Sind wir denn alle verrückt?", lautete seine erste Antwort auf die ersten Erkenntnisse über die jahrzehntelang verborgenen Akten: "Das ist eine derartige Ungeheuerlichkeit, die allein Klagen in dreistelliger Milliardenhöhe auslösen müsste." Für die Erben der Opfer und die weltweit aktiven Opfervertreter sind die NS-Akten, die in den Nachkriegsjahren in der Dienststelle für Vermögenssicherung und Rückstellungsangelegenheiten archiviert und jahrzehntelang ohne Kenntnis der Öffentlichkeit, der Historiker und vor allem der Opfer in den Archiven der Finanzlandesdirektion lagen, von ebenso großer Bedeutung wie für die Geschichtsforschung. "Wir hätten uns eine Menge Arbeit ersparen können", sagt etwa der Historiker Gerhard Ungar, der das vor acht Jahren im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) begonnene Projekt der namentlichen Erfassung der österreichischen Holocaust-Opfer betreut. "Mit unglaublichem Aufwand" (Ungar) hatte eine Historikergruppe um Ungar, Florian Freund, Gisela Wibihail und Regine Muskens die Forschungsarbeit vorangetrieben, hauptsächlich auf Basis der allerdings fehlerhaften Namenskartei der Kultusgemeinde und anhand der mikroverfilmten Listen vom internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes in Arolsen, Deutschland. Dazu wurden noch weitere 80 bis 100 Quellenbestände ausgewertet. Die Behörde schwieg Die bittere Ironie: Das von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem initiierte Projekt der namentlichen Erfassung der österreichischen Holocaust-Opfer war 1992 vom Wissenschaftsministerium in Auftrag gegeben worden. Gleichzeitig unterließ aber eine andere österreichische Regierungsbehörde, eben die Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland, alles, um die Realisierung dieser Mammutaufgabe zu erleichtern, obwohl das Projekt öffentlich oft beschrieben und daher bestens bekannt war. Vor allem aber: Es sind noch lange nicht alle Akten der Finanzlandesdirektion in diesem Zusammenhang einzusehen. Zusätzlich zu den von deren Sitz in der Wollzeile zu Jahresanfang ins Republik-Archiv überstellten 85.000 Akten gibt es noch weitere Zehntausende in den Kellern der Behörde, die der Aufarbeitung der Historiker und Archivare harren. Die jetzt im Archiv der Republik gelandeten Akten dokumentieren die letzte Etappe der wirtschaftlichen Vernichtung und den entscheidenden Schritt zur physischen Vernichtung. Es sind Akten, die das reibungslose Zusammenspiel zwischen den Banken und Adolf Eichmanns "Zentralstelle für jüdische Auswanderung" bei der Enteignung der "rassisch" Verfolgten darstellen. Es sind aber auch Akten, die immer wieder die Haltung des Nachkriegs-Österreich dokumentierten, dann nämlich, wenn die Angehörigen der Ermordeten und Deportierten versuchten, wenigstens Teile des Geraubten zurückzuerhalten. So etwa wandte sich der nach Frankreich emigrierte Sohn der am 10. September 1942 nach Theresienstadt und von dort nach Auschwitz deportierten Grete Dohan im März 1953 an die Finanzlandesdirektion, "Dienststelle für Vermögenssicherungs- und Rückstellungsangelegenheiten", in der Hoffnung, jenes Bankguthaben zurückzubekommen, dass die CA im Jänner 1943 auf das Sonderkonto "Judenumsiedlung" bei der Länderbank überwiesen hatte. Ernst Dohan wusste sogar, woraus sich der Betrag - 18.422 RM - zusammengesetzt hatte: "Aus Bargeld, welches meine Mutter in der Creditanstalt aufbewahrte, und jenen Beträgen, die der Spediteur Dr. Hofbauer & Co., Wien I, Tiefer Graben 23, nach erfolgten Zwangsverkäufen des Mobiliars und anderen beweglichen Eigentums meiner Mutter, auf obiges Sperrkonto überweisen musste." Die Antwort der Finanzlandesdirektion unter der Aktenzahl 0 5205- XL/302 - die Zifferngruppe XL/302 war Grete Dohans Deportationsnummer - fiel knapp aus: "Da die Vermögenswerte der Frau Dohan im Inlande nicht mehr vorhanden sind, hätte nur ein abweisender Bescheid an Sie ergehen können. Da jedoch die Verlassenschaft nach Ihrer Mutter Ihnen nicht eingeantwortet worden ist, fehlt Ihnen überdies die Legitimation zur Antragstellung." "Judenabgabe" Acht Jahre später versucht es Dohan noch einmal. Diesmal wollte er die Höhe der "Judenabgabe" wissen, die seine Mutter seinerzeit zu zahlen hatte. Auch hier fiel die Antwort österreichisch aus: "Über Juva (Judenvermögensabgabe) sind weder ha. noch bei den seinerzeit zuständigen Wohnsitzfinanzämtern zweckdienliche Unterlagen vorhanden. Die Ausstellung einer ha. Bestätigung könnte nur bei Vorlage von etwaigen noch vorhandenen Einzahlungsbelegen oder von diesbezüglichen Bankkontoauszügen erfolgen." Natürlich gab es die "Juva" betreffende Akten, auch für die in Auschwitz ermordete Grete Dohan. Diese lagerten in den Nachkriegsjahren allerdings im Finanzministerium. Recherche: Alexandra Caruso/Hubertus Czernin