Die Welt und die Historie, verdichtet auf dem Areal eines chinesischen Vergnügungsparks: "Shijie / The World" von Jia Zhangke.

Foto: Filmmuseum
Internationales Autorenkino aus den Jahren 2000 bis 2006, das anhand von individuellen Geschicken Geschichtsverläufe kritisch begleitet und reflektiert.


Wien – In Teheran öffnet eines Morgens ein Juwelier in einem besseren Viertel sein Geschäft. Er sieht sich einem Mann mit einem Sturzhelm gegenüber. Der Raubüberfall geht schief, denn der Mann ist kein Profi, er ist Opfer, nicht Täter. Die Szene steht am Beginn und am Ende des Films "Talaye sorgh / Crimson Gold" von Jafar Panahi. Dazwischen erzählt der iranische Regisseur von 24 Stunden in der Geschichte Teherans, immer aus der Perspektive dieses einen Mannes, Hossein, der als Pizzabote viel herumkommt in der Stadt.

Er ist der schweigsame Zeuge dafür, was aus dem Iran seit der Revolution geworden ist – eine Klassengesellschaft unter der Aufsicht von Moralwächtern. Hossein ist eine Figur, in der sich eine ganze Nationalgeschichte verdichtet – er leidet immer noch an den Wunden des Irakkriegs, das Cortison hat ihn aufgeschwemmt. Wenn seine Verlobte sich zu freizügig kleidet, wird er nervös. Hossein ist kein Reformer, aber auch kein Fundamentalist. Er ist einer, für den die Geschichte nichts übrig hat.

Das Österreichische Filmmuseum zeigt im November im Rahmen von New Crowned Hope und unter dem von Jean-Luc Godard entliehenen Titel "Notre Musique" eine Filmgeschichte der Gegenwart – ausschließlich Werke, die seit 2000 entstanden sind. Nur scheinbar handelt es sich um ein paradoxes Unterfangen. Die Auswahl zeigt deutlich, dass es nicht um einen Rückblick auf etwas, was doch gerade erst geschieht, gehen kann. Vielmehr wird das Kino hier zum Zeugen dafür, dass sich das Verhältnis von Gegenwart und Geschichte insgesamt verändert hat.

Welt im Wandel

Das Datum 9/11, mit dem wir die markanteste Ausprägung der Gegensätze verbinden, von denen die Welt zur Zeit bestimmt wird, liegt zwar fünf Jahre zurück. Es hat aber an Präsenz kaum verloren. Wenn nicht alles täuscht, wird die Gegenwart seither beständig als "historisch" empfunden – nahezu jedes Ereignis gehört nun in den Zusammenhang einer Welt, die sich vor ihren eigenen Augen dramatisch verändert.

Die neue Multipolarität, die ökonomisch schon unübersehbar ist, hat das internationale Autorenkino antizipiert und kritisch begleitet – Jia Zhangke beobachtet den chinesischen Boom aus der skeptischen Perspektive der Opfer; die Argentinierin Lucrecia Martel erzählt von einer Bourgeoisie, die sich verkaufen und verraten ließ; der Rumäne Cristi Puiu untersucht die Schutzfunktionen der Staatsform, die aus dem Staatssozialismus hervorgegangen ist; George A. Romero reiht mit seinen Zombiefilmen ein Menetekel der Konsumgesellschaft an das nächste.

Das Kino, wie es in "Notre Musique" versammelt wird, unterläuft die Gewaltenteilung der globalen Mediengesellschaft, die bei Godard so formuliert wird: "Die einen drängen sich darum, ihr Elend vorzutragen, für die anderen ist diese Schau die tägliche Dosis an moralischem Zuspruch für ihre Herrschaft." Für den Vortrag des Elends braucht es – auch davon handelt Godards Film "Notre Musique" – nicht viel mehr als eine Videokamera und ein Bild, das Aufmerksamkeit erregt; der Terrorismus bringt dies zusammen, indem er Tote produziert, die zu einem Bild werden.

Das Kino, das im Filmmuseum aus der globalen Unterhaltungsindustrie herausgehoben wird, operiert dagegen anders: Fast alle ausgewählten Filme zielen auf eine neorealistische Modellierung des Geschichtsverlaufs im individuellen Geschick. Anschlüsse an den ersten Neorealismus nach dem Jahr 1945, als ein Weltkrieg zu Ende ging und viele kleine Kriege begannen, liegen nahe. Es gibt kein Trauma, das sich einfach in die Gesellschaft verströmt – einzelne Menschen verschließen es in sich, aus ihnen muss es wieder freigelegt werden.

Hier beginnt die interessanteste Spur, die das Filmmuseum mit "Notre Musique" legt: Eine kulturell gesättigte Melancholie (Wes Anderson, Tsai Ming-liang) bricht sich am Realen einer Geschichtserfahrung, in der es nicht mehr – wie im 20. Jahrhundert – um Masse und Macht geht, sondern wieder um die Entscheidungs- und Unterlassungsmacht des Individuums. "Da unsere Zeit riesige Vernichtungskraft besitzt, braucht sie jetzt eine Revolution mit vergleichbarer kreativer Kraft, die das Gedächtnis stärkt, Träume verdeutlicht und Bildern Substanz gibt", heißt es bei Godard. Diese Revolution ist nicht, wie es eine Zeit lang aussah, technologisch – es geht nicht um eine Substanz des Kinos gegenüber Video und Computer. Sie ist ethisch. Die Filme in "Notre Musique" zeigen das eindrücklich. (Bert Rebhandl / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3.11.2006)