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In vielen Kriminalromanen resultiert die schöne Erleichterung, die den Leser am Ende erfasst, aus der Lust an der exakten Arbeit der Aufklärungsmaschinerie, die das Raffinement des Täters im Moment seiner Überführung entscheidend überbietet und das getarnte Geflecht seiner Motive unwiderleglich enttarnt. Man träumt eher gut, wenn man ein solches Buch aus der Hand gelegt hat und die Nachttischlampe löscht. Denn nichts liegt dem Ineinandergreifen der Rädchen von raffinierter Tat und subtiler Aufklärung ferner als der groben, elementaren Logik des Alptraums.

Der Schweizer Schriftsteller Martin Suter, 1948 in Zürich geboren, hat in seinem zweiten Roman "Die dunkle Seite des Mondes" einen Mörder erfunden, dem das Töten leicht von der Hand geht und dem die Opfer kaum Widerstand entgegensetzen. Er ist, man muss das so deutlich sagen, ein Serienkiller, aber er folgt keinem Plan. Er begeht seine Untaten wie ein Schlafwandler, der seiner Eingebung folgt, manchmal hochschreckt, weil ihn ein ungutes Gefühl jäh durchzuckt, aber nie die Grenze zum Erwachen durchstößt. Er ahnt, dass es irgendein Gesetz gibt, dem die Serie seiner Taten folgt, ja, er will dieses Gesetz herausfinden, aber statt sich selbst auf die Spur zu kommen, kommt er sich selbst abhanden.

Dabei ist Urs Blank eigentlich ein hellwacher Typ: brillanter Wirtschaftsanwalt im Finanzzentrum der Schweiz, gerade 45 geworden, durch seine amerikanische Zulassung prädestiniert für die Abwicklung großflächiger, internationaler Fusionen und Firmenübernahmen. Eben gerade hat er konspirativen Übernahmeverhandlungen den entscheidenden Kick durch eine raffinierte Klausel gegeben, die ihren Unterzeichner mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit ruinieren wird. Kühl liegt sein mondänes Leben vor ihm wie die Terrasse eines Bungalows, in dem David Hockney-Bilder an der Wand hängen. Eigentlich könnte er sich mit seiner eleganten Freundin, die ein elegantes Antiquitätengeschäft auf der Höhe der Zeit führt - sie verkauft das Design der klassischen Moderne -, entspannt zurücklehnen. Aber er ist nicht entspannt. Woher diese Spannung im Leben des Urs Blank?

Souverän verzichtet Martin Suter auf eine klare Antwort. Stattdessen macht er etwas Überraschendes: Er erzählt zwar den Wirtschaftskrimi mit seinen Tricks und getürkten Bilanzen, den der Leser erwartet. Aber die Kanzleiwelt ist nur der Luftballon, an dem sich Urs Blank festhält, während er aus seinem Leben stürzt. Der Sog, der ihn hinabzieht, kommt nicht aus der juristisch-ökonomische Intrige, sondern - aus dem Wald. Ihn betritt Urs Blank zu Beginn noch in eleganten Schuhen. Dann aber lernt er eine nach Sandelholz-Räucherstäbchen duftende Flohmarktschönheit und durch sie die Pilze des Waldes kennen. Dazu läuft die Titelmelodie des Romans, dessen Held er ist: "The dark side of the moon" von Pink Floyd. Irgendeine Faser der halluzinogenen Pilze verbündet sich mit irgendeiner innersten Lebensfaser des Urs Blank. Und zugleich erwacht in einem seiner Geschäftspartner der Jagdinstinkt.

Ja, gewiss, am Ende bleibt auch hier die Zivilisation siegreich. Aber nicht daraus resultiert in diesem alptraumhaften Roman die Spannung. Sondern aus der luziden Konsequenz, mit der er das Personal eines Gesellschaftskrimis den Gesetzen des Naturzustands aussetzt. (Lothar Müller / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3.11.2006)