"Auf die Frage: Wer oder was hätten Sie sein mögen? lautete Ilse Aichingers Antwort: Niemand und Nichts." – Michael Krüger im bilderbuch von stefan moses.

fotografie: stefan moses

Ilse Aichinger (rechts) mit ihrer Zwillingsschwester Helga, 1985 in München.

fotografie: stefan moses

ILSE AICHINGER. ein bilderbuch von stefan moses.
Fischer Verlag, 160 Seiten/30,80 Euro.

Buchcover: S. Fischer

Der Mann mit der Kamera: Stefan Moses.

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Wien – "Und wenn man in die Türkei fährt, / sagt meine Großmutter, / und dort stirbt, / wird man also / auf einem türkischen Friedhof / begraben." "Mittlerer Wahrspruch", ein Gedicht von Ilse Aichinger.

Auf den "unglaubwürdigen Reisen", die Aichinger seit nunmehr 85 Jahren immer wieder angetreten und nicht selten im besten Wissen um die Kunst des Verzichts und des Auslassens auch sehr plötzlich wieder abgebrochen hat – auf diesen Lebensreisen ist ihr irgendwann der Fotograf Stefan Moses begegnet: ein großer Licht- und Schattenspieler. Es muss wohl so etwas wie Zuneigung und Vertrauen auf den ersten Blick gewesen sein, denn die Porträts, die Moses seit den 70er-Jahren von Aichinger und den ihr nächsten Menschen gemacht hat, sie zeigen die Dichterin ungeschützt und behütet zugleich – in einem Dialog ohne Worte.

Für Aichingers Stammverlag Fischer hat Stefan Moses nun Momente dieses Dialogs, erweitert um bis dato unbekannte Aufnahmen aus Aichingers Kindheit und Jugend und einige Texte aus dem bisherigen Gesamtwerk, zu einem "bilderbuch" (jawohl, klein geschrieben) kompiliert. Und es ist viel mehr als eine Geburtstags-Hommage geworden: Eine fließende Abfolge von Fotografien, Prosa und Lyrik entwickelt da eine Magie, die besser als jeder Interviewband ein Gefühl davon vermittelt, was Aichingers Sprache und Haltung so speziell werden ließ – ohne jemals zu versuchen, auratische Geheimnisse voyeuristisch zu lüften, an denen ihr Leben und ihr Werk – von Die Größere Hoffnung bis zu den jüngst bei Korrespondenzen erschienenen Subtexten überreich ist.

Wir sehen: Wegbegleiterinnen und Gefährten wie Aichingers Zwillingsschwester Helga (der auch herzlich zum Geburtstag gratuliert werden soll), ihre Mutter und die von den Nazis ermordete Großmutter, ihren Mann Günther Eich, die Kinder Miriam und Clemens, Beschützer und Freunde wie Richard Reichensperger oder Franz Hammerbacher.

Wir sehen: Wohnorte und Lebensräume, von denen aus Aichingers Sprache sich klein machte und doch so gewaltige Resonanzen entwickelte: Das "Kleist-Moos-Fasane"-Wien der frühen Jahre, Großgmain, Reiseimpressionen aus Deutschland, das Café Imperial, in dem Aichinger jahrelang bevorzugt geschrieben hat, diverse Wohnungen, oder: das Sanatorium, in dem sie bis vor kurzem nach schwerer Krankheit untergebracht war. Da entstand übrigens eines der unglaubwürdigsten, wahrhaftigsten Fotos, das Stefan Moses je gemacht hat, eine Aufnahme per Selbstauslöser: Aichinger und der Fotograf sitzen einander mit Blick auf ein sehr schmucklos profanes Wien auf einer Dachterrasse in Rollstühlen gegenüber: Verwandte, wenn schon nicht im Geiste, so doch in einer gemeinsamen stoischen Sicht auf Hinfälligkeit, soziale Ränder, und in einer gewissen Moribundheit.

Aichingers Lieblinge Stan Laurel und Oliver Hardy hätten vor der tragikomischen Grandezza dieses Moments wohl ihre Hüte gezogen. An dieser Stelle und auch in anderen Aufnahmen aus dem Krankenzimmer, wo Aichinger sich in einer hinfälligen Schönheit aussetzt, ohne für dümmlichen Emotions-Journalismus missbraucht zu werden – hier kulminiert, was ihren Blickkontakt und Dialog nicht nur mit Stefan Moses über die Jahre ausgezeichnet hat: größte Direktheit und Schlichtheit selbst im unglaubwürdigsten Ambiente.

Es gibt zum Beispiel ein berühmte Fotoserie, die Moses Ende der 80er mit ihr in einem Wald gemacht hat: Dabei ist Ilse Aichinger ein Mensch, bei dem man Spaziergang-Fotos in freier Natur eher nicht für charakteristisch halten würde. Wenn sie sich in einem Café mit unvergleichlicher Konzentration über Selbstgeschriebenes oder irgendeine rororo-Monografie oder Cioran beugt, das ja! Aber Aichinger im Wald? Wie sie da mit einer sehr urbanen Coolness am Baum lehnt, den vielleicht nur sie (nicht) beschreiben könnte, und wie sie das Gestellte der Aufnahme in zunehmender Lust am selbstironischen Spiel unterläuft: Das ist ein Gedicht für sich.

"ILSE AICHINGER – ein bilderbuch von stefan moses". Die Groß- und die Kleinschreibung im Titel sind natürlich Programm. Bezogen auf Moses sind sie aber auch heftigstes Understatement. Dieser Meister unter den Porträtfotografen, er hat Aichinger mit einem Buch beschenkt, das nur von ihr sein kann. Und er hat ihrer von ihm so verehrten "Sprachmelodie con variationes" Umkehrungen entlockt, die uns verführen, mit dem "Chinesischen Abschied" zu schließen: "Wir legen uns heute nieder, / doppelt nieder, / wer uns wecken will, / möge es sanft tun, / er möge seine Stimme schonen / und auch sein Herz, / denn beide sind kostbar."

PS: Den Aichinger- und Moses-Fotos ist derzeit in der Akademie der Schönen Künste in München eine Ausstellung gewidmet. Ob sich für so ein Unternehmen auch in Wien noch ein Ort findet?(Claus Philipp/ DER STANDARD, Printausgabe, 31.10.2006)



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"Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft":
Zum Fotografen Stefan Moses

Stefan Moses, 1928 im schlesischen Liegnitz geboren, war 1944/45 im Zwangsarbeiterlager Ostlinde (später Grünberg) interniert. 1947 begann er als Bühnenfotograf am Nationaltheater in Weimar, bevor er nach München übersiedelte, wo er als Bildjournalist unter anderen für Magnum und Stern arbeitete. Ende der Sechzigerjahre machte er sich als Fotograf selbstständig. Sein 1967 erschienener Band Manuel, das Tagebuch eines Jungen, fotografiert 1963–64, wurde zum Kultbuch der 68er-Elterngeneration. In seinen Fotoessays bedeutender deutscher Geistesgrößen ersetzte er den Begriff des "entscheidenden Moments" gegen den "flüchtigen Moment". Nicht Einzelbilder, sondern Porträtserien und Fotozyklen bilden folglich den Mittelpunkt seiner Arbeit, "fließende Fotografien", die Fluss und Wandel des Lebens dokumentieren. (cia/DER STANDARD, Printausgabe, 31.10.2006)