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November 2002: "Ehrenpreis fuer Toleranz in Denken und Handeln"

Foto: APA/Roland Schlager
Wien - "Wenn ich überhaupt nichts mehr erzählte und auch auf Fragen nur im äußersten Fall und nur dem Schein nach einginge?" schrieb Ilse Aichinger einst. Glücklicherweise ist es bei dieser Frage geblieben. Denn zu erzählen hat die österreichische Autorin, die kommende Woche (1. November) ihren 85. Geburtstag feiert, nie aufgehört. Ihre Gedichte, Romane, Erzählungen und Hörspiele haben sie längst zur modernen Klassikerin gemacht. Aichingers Rang als Lyrikerin und als Meisterin des präzisen Wortes wurde früh erkannt und mit renommierten Preisen gewürdigt, allein in den vergangenen zehn Jahren erhielt sie sowohl den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels als auch den österreichischen Staatspreis für Literatur.

Kindheit in Linz

Ilse Aichinger kam mit ihrer Zwillingsschwester Helga am 1. November 1921 als Tochter einer Ärztin jüdischer Herkunft und eines Lehrers in Wien zur Welt. Ihre Kindheit, die durch die frühe Scheidung ihrer Eltern geprägt war, verbrachte sie in Linz. Später wuchs sie in der Obhut der mütterlichen Großeltern in Wien auf und musste mit ansehen, wie ihre Großmutter von den Nazis am Schwedenplatz in einem Lastwagen abtransportiert wurde.

Medizinstudium durch Nürnberger Rassengesetze zunächst verwehrt

Ein Medizinstudium konnte Aichinger auf Grund der Nürnberger Rassengesetze erst nach dem Krieg beginnen, doch brach sie dieses bereits nach fünf Semestern ab, um ihren ersten, schon 1942 begonnenen Roman "Die größere Hoffnung" fertig zu stellen, der 1948 bei S. Fischer erschien. Das Buch, in dessen Zentrum eine Gruppe jüdischer Kinder im Wien der Nazizeit steht, fand bei seinem Erscheinen wenig Zustimmung, gilt heute aber als einer der wichtigsten deutschsprachigen Romane der Nachkriegszeit. Der Davidstern bedeutet darin nicht die geringere Hoffnung zu leben, sondern die größere, die Hoffnung "auf alles", Leben und Tod, Annahme des Leidens und Mut zur Angst.

Durchbruch 1952 mit der "Spiegelgeschichte"

Ab 1950 arbeitete Aichinger in Frankfurt als Lektorin bei S. Fischer sowie an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. 1951 nahm sie erstmals an der Jahrestagung der "Gruppe 47" in Bad Dürkheim teil. 1952 erhielt sie den Preis dieser Gruppe für die "Spiegelgeschichte" - mit dem Text, der das Leben rückwärts von der Bahre bis zur Wiege erzählt, gelang ihr der literarische Durchbruch. Ziel des Lebens, so Aichingers Botschaft darin, sei der Tag der Geburt, "an dem du schwach genug bist" - es gehe darum, alles zu verlernen, auch und besonders die Sprache. Sie näherte sich zunehmend offenen literarischen Formen an, in denen lineare, kausale Zusammenhänge zu Gunsten sprachlicher Assoziationen in Hintergrund treten.

Heirat mit Schriftstellerkollegen Günter Eich

1953 heiratete Aichinger ihren Schriftstellerkollegen Günter Eich, den sie auf einer Tagung der "Gruppe 47" kennen gelernt hatte. Die gemeinsame Tochter Mirjam (Jahrgang 1957) wurde Bühnenbildnerin, der Sohn Clemens Eich (1954), Schriftsteller und Schauspieler, verunglückte 1998 tödlich in Wien. Die Familie lebte zunächst in verschiedenen Dörfern Bayerns, dann im österreichisch-bayrischen Grenzort Großgmain. 1972 starb Günter Eich, 1984 übersiedelte Ilse Aichinger nach Frankfurt, seit 1989 lebt sie wieder in Wien.

Wichtigste Veröffentlichungen

Die Autorin schrieb außer ihren großen Romanen Erzählungen, Kurzprosa, Gedichte und Hörspiele. Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen zählen "Zu keiner Stunde - Szenen und Dialoge" (1957), "Besuch im Pfarrhaus" und "Knöpfe" (Hörspiele/1961), "Wo ich wohne" (Erzählungen, Gedichte, Dialoge/1963), "Eliza, Eliza" (Erzählungen/1965), "Auckland" (Vier Hörspiele/1969), "Schlechte Wörter" (Erzählungen/1976), "Verschenkter Rat" (Gedichte/1978), "Meine Sprache und ich" (Erzählungen/1978) und "Kleist, Moos, Fasane" (Kurzprosa/1987). 2005 erschien der Band "Unglaubwürdige Reisen", der eine Auswahl ihrer Feuilletons, Anmerkungen und Betrachtungen versammelte, die Aichinger ab 2001 in der Zeitung "DER STANDARD" (>>>siehe entsprechende Hyperlinks rechts) veröffentlicht hatte.

Preise und Ehrungen

Ilse Aichinger wurde mit zahllosen bedeutenden Auszeichnungen geehrt. Für ihr Lebenswerk erhielt sie den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur (1995), 2000 (zusammen mit W.G. Sebald und Markus Werner) den Joseph-Breitbach-Preis, die höchstdotierte Auszeichnung für Schriftsteller in Deutschland. Die Jury lobte Aichingers "strenge, hellsichtige, unerhört konzentrierte, oft geisterhaft wirkenden Arbeiten", die "das Schweigen zugleich brechen und bewahren".

Im Jahr 2002 erhielt die Autorin den "Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln".In der Begründung hieß es damals: "Ilse Aichingers Werk beschreibt auf vielschichtige Weise die Möglichkeiten, die Barrieren zwischen konstruktivem Zusammenleben und gegenseitigem Unverständnis zu überwinden." (APA)