Beiläufig vergeht der Tag, an dessen Ende jemand sterben wird: Von den kleinen und großen Dramen Heranwachsender in der türkischen Provinz erzählt Reha Erdems "Bes Vakit".
24. 10., Urania, 16.00; Wh.: 25. 10., Metro, 13.30

Foto: Viennale
"Schlafendes Kind, wach auf": Auf einem Felsen, hoch über den Olivenhainen, spricht ein Mädchen ein Gedicht. Es handelt vom frühen Morgen, vom Ende des unschuldigen Schlafs, vom Ende der Kindheit in einem Dorf im Westen der Türkei.

Die Kinder lernen in der Schule, dass sie ihr Leben der Nation widmen sollen. Die Zucht der Väter aber ist noch viel strenger als die der schönen Lehrerin. Die Väter richten sich nach dem Islam und nach den alten Autoritätsregeln, die in der Gesellschaft immer schon galten. In Reha Erdems Film Bes Vakit (Times and Winds) bereitet sich eine Rebellion dagegen vor, unbemerkt von den Erwachsenen.

Die Kinder, zwölf oder dreizehn Jahre alt, lassen sich durch die Tage treiben, sie schmieden aber auch ihre Pläne. Der Hirtenjunge, der selbst keine Eltern mehr hat, dafür von einem Aufseher hart gezüchtigt wird, sammelt Skorpione und verkauft sie an einen Freund, der seinem Vater nach dem Leben trachtet. Ein anderer Junge verehrt die Lehrerin und wacht eifrig darüber, dass kein Verehrer an ihr Fenster kommt.

Reha Erdem (Mommy, I'm scared, 2004) errichtet zwei miteinander unvereinbare Ordnungen: Was die Eltern machen, wird für den Film nur relevant, insofern die Kinder es beobachten. Was die Kinder machen, entzieht sich den Eltern nahezu zur Gänze - sie haben keine Ahnung, was ihre Schutzbefohlenen den ganzen Tag treiben.

Der Titel Bes Vakit bezieht sich auf die fünf Zeiten am Tag, zu denen ein Gebetsruf erfolgt. Der Imam ist nicht nur die höchste religiöse Autorität im Dorf, er wird auch gerufen, wenn ein Unglück geschieht. Zivile Autorität oder gar der Staat, der in der Schule besungen wird, sind abwesend.

Übersichtbares

Reha Erdem zeichnet kein realistisches Bild dieser archaischen Gemeinschaft. Er überhöht vielmehr die kleinen Dramen. Mit schwerer Musik und intensiven Farben macht er Bes Vakit zu einem dezidiert ästhetischen Ereignis, dem er mit den zahlreichen Steadycamfahrten durch die engen Straßen des Dorfs und die Wiesen und Felder der Umgebung noch eine zusätzliche träumerische Note verleiht. Immer wieder sind die Kinder in einem leitmotivischen Bild zu sehen, aus dem nicht ganz klar hervorgeht, ob sie schlafen oder tot sind. Es herrscht eine bedrohliche, unwirkliche Stimmung.

Bes Vakit sieht ein wenig so aus, als wären frühe Filme von Abbas Kiarostami durch eine Attraktionsmaschine geschickt worden - alles, was dort einfach und klar ist, ist bei Reha Erdem mit Mysterium aufgeladen, einem Geheimnis, das sich der Technik verdankt.

Vielleicht stellen diese Formen der Intensivierung einfach den Versuch dar, einer kindlichen Weltsicht gerecht zu werden - alles, was den Erwachsenen schon geläufig ist, ist für die jungen Protagonisten noch eine Sensation. Zugleich steht Reha Erdem mit seiner Ästhetik aber ganz eindeutig über den Dingen - er streift selbst durch die Gegend wie ein heidnischer Gott, der das seltsame Treiben der Menschen beobachtet.

Bes Vakit verhält sich antithetisch zu Quei Loro Incontri von Straub/Huillet - was dort unsichtbar bleibt, wird bei Reha Erdem übersichtbar. (Bert Rebhandl/ DER STANDARD, Printausgabe, 24.10.2006)