Aus dem warmen Sardinien reist Hermine Wöhri zu Experimenten nach Genf, bei denen es 100.000-mal heißer zugeht als in der Sonne: Mini-Big-Bangs sollen ungekannte Materiezustände erzeugen.

Foto: DER STANDARD/ÖPG
Die Teilchenphysikerin Hermine Wöhri forscht am CERN und in Cagliari, was die Materie im Innersten zusammenhält oder auch nicht. Michael Freund sprach mit ihr über ultraheiße Experimente, ihre Nebenwirkungen und die Sprachkultur der Wissenschafter.

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STANDARD: Frau Wöhri, Sie arbeiten auf einem Gebiet der Physik, nämlich dem der Hochenergiephysik, das sich mit grundsätzlichen Fragen von Materiezustand beschäftigt, nämlich wann diese "gebunden" ist und wann sie sich in einem Zustand von freien Quarks und Gluonen befindet. Was wollen Sie erkennen?

Wöhri: Es gibt in der Hochenergiephysik ein Standardmodell, welches die grundlegenden Bausteine der Materie (wie z. B. die Elektronen, Quarks und Gluonen) und deren Interaktion untereinander beschreibt. Dieses umfasst die grundsätzlichen Kräfte: die elektromagnetische, die schwache und die starke Wechselwirkung, welche durch die Quantumchromodynamik (QCD) beschrieben wird.

Die QCD sagt nun voraus, dass unter extremen Bedingungen freie, nicht in Nukleonen gebundene Quarks existieren müssten. Quarks sind nie "ganz frei", aber die Anziehung wird umso schwächer, je näher die Teilchen zueinander sind - also das Gegenteil von der Gravitation. Diese extremen Bedingungen wollen wir im CERN in Genf erzeugen und nachweisen.

STANDARD: Dabei sollen ca. 100.000-mal heißere Temperaturen als im Inneren der Sonne erzeugt werden, was schwer vorstellbar ist, vor allem, wenn man noch nie im Inneren der Sonne war. Wie soll das funktionieren?

Wöhri: Direkt kann man das natürlich nicht messen. Wir erzeugen einen extrem kurzen und lokal begrenzten Plasmazustand mittels eines Beschleunigers. Dann beobachten wir, was als Folge des Zustands passiert: Wir messen die Teilchen, die produziert werden und abstrahlen: Welche sind es, wie viele, und folgen sie unseren Annahmen?

STANDARD: Sie arbeiten an einem italienischen nationalen Forschungsinstitut in Cagliari. Wie reimt sich das auf das CERN in Genf?

Wöhri: Das Institut existiert praktisch wegen CERN. Dort finden alle Experimente statt, dafür haben wir eine gewisse "Strahlzeit", dann kehren wir zurück nach Sardinien und analysieren die Daten. In Genf arbeiten ca. 2000 Menschen, doch europaweit sind es rund 10.000, die sich mit Hochenergiephysik befassen, in zwei Hauptgruppen: in der Teilchenphysik und der Schwerionenphysik. Meine Diplomarbeit (über einen Detektor am zukünftigen Large Hadron Collider) war auf dem Gebiet der Teilchenphysik, jetzt bin ich eher Schwerionenphysikerin.

STANDARD: Man spricht von den Gluonen (vom englischen "glue" für Klebstoff) sozusagen als dem Bindemittel für elementarste Teilchen. Glauben Sie, dass durch sie die Welt in Form der Quarks tatsächlich "zusammengehalten" wird?

Wöhri: So etwas kann man nur momentan beantworten. Zur Zeit glauben wir, dass Quarks und Gluonen (neben Elektronen) die Elementarteilchen sind. Aber wenn wir bessere Instrumente haben, dann werden wir vielleicht noch elementarere Teile finden. Das ist alles eine Frage der Auflösung. Für die makroskopischen Phänomene reicht die Newton'sche Physik sowieso.

STANDARD: Wie kann diese Art von Forschung weitergehen? Dass man immer wieder noch kleinere Einheiten findet, oder könnte es da einmal einen Paradigmenwechsel geben, was die "Theorie von allem" angeht?

Wöhri: Man muss in diesem Zusammenhang auch bedenken, dass es in unserer Forschung nicht nur um das Kleinste geht. Sie hat auch bereits geholfen, den Kosmos besser zu verstehen, wie zum Beispiel die Sterne zusammengehalten werden. Ob und wie diese Forschung weitergehen wird, lässt sich nur schwer beantworten. Das ist eher eine politische Frage, es geht darum, wo die Forschungsgelder hingehen. Mir scheint es besser, sich auf das zu konzentrieren, was man hat, und hier das Mögliche zu erforschen.

Am CERN wird zwar Grundlagenforschung betrieben, aber es sind schon viele Nebenprodukte dabei herausgekommen, die etwa in der Detektortechnologie oder in der Medizin wichtig geworden sind. Ein berühmtes By-Product des CERN ist das Internet, momentan folgt das "Grid" als eine ebenso interessante Entwicklung.

STANDARD: Mit welchen Anwendungsmöglichkeiten?

Wöhri: Es ist wie das Internet auf der ganzen Welt verteilt, nur dass man mittels des Grids Prozesse bearbeiten kann. Also: Wenn ich zum Beispiel in Cagliari an einer großen Aufgabe sitze, kann ich sie ins Netzwerk schicken, das sie an Rechner irgendwohin verteilt.

STANDARD: Frau Wöhri, Sie schreiben in Ihrem Curriculum von dem angenehmen Nebeneffekt, dass Sie aufgrund Ihrer Forschungszeit in Genf, Ihrer Postdoc-Stelle in Lissabon und Ihrer nunmehrigen neun Monate in Cagliari in verschiedene Sprachkulturen eintauchen konnten. In welcher fühlen Sie sich besonders wohl?

Wöhri: Zunächst einmal ist die Sprache unter Physikern sowieso Englisch, auch hier in Sardinien. Das Wohlfühlen hat also weniger mit der Sprache als mit Sozialem und Persönlichem zu tun. In den südlichen Ländern gefällt's mir überall, doch ein staatliches soziales Netz wie in Österreich gibt es nirgends, das ist ein Traumland in dieser Hinsicht. Darum will ich eines Tages wahrscheinlich auch nach Österreich zurückkehren.

Bis dahin aber ist es gut, verschiedene Kulturen kennen zu lernen und zu erleben, wie unterschiedlich Europa bei aller Prägung durch das Christentum doch ist.

Beruflich ist für mich neben der Möglichkeit einer Rückkehr eine längerfristige Arbeit in Cagliari eine Perspektive. Oder wieder das CERN. (DER STANDARD, Printausgabe, 18. Oktober 2006)