Zur Person:
Mihran Dabag ist Leiter des von ihm aufgebauten Instituts für Diaspora- und Genozidforschung sowie Professor am Geschichtswissenschaftlichen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Der aus der Türkei stammende Armenier hat Philosophie, Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft in Bonn und Bochum studiert. Er hat zahlreiche Bücher über Gewalt, Genozid und Kolonialismus veröffentlicht. Im Jahr 2003 erhielt der Sohn Überlebender des Völkermords an den Armeniern den Franz-Werfel-Menschenrechtspreis.

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Das Plakat, das anlässlich des 90. Jahrestags des Genozids an den Armeniern im Jahr 2005 entworfen wurde, zeigt 90 Überlebende des Völkermords.

(AP Photo/Herbert Bagdasaryan, HO)
Das von der französischen Nationalversammlung vergangene Woche verabschiedete Gesetz, mit dem die Leugnung des Genozids an den Armeniern Anfang des 20. Jahrhunderts unter Strafe gestellt werden soll, hat harsche Reaktionen von Seiten der Türkei nach sich gezogen. Im Email-Interview mit derStandard.at erklärt Mihran Dabag , Leiter des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr Universität Bochum, warum es dem EU- Beitrittskandidaten so schwer fällt, diesen Völkermord anzuerkennen. Die Fragen stellte Sonja Fercher.

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derStandard.at: Die Türkei hat empfindlich auf das von der Pariser Nationalversammlung verabschiedete Gesetz reagiert, das die Leugnung des Armenien-Genozids unter Strafe stellt. Warum ist dieses Thema so wichtig für die Türkei?

Mihran Dabag: Da gibt es sicherlich verschiedene Gründe, der wichtigste scheint mir dabei in den Selbstbildern und Identitätsentwürfen der Türkei als Nationalstaat zu liegen. Denn der Genozid von 1915/16 war zentral eingebunden in den Prozess der Transformation des osmanischen Vielvölkerstaats in einen türkischen Nationalstaat mit einer homogenen Bevölkerung.

Es ist eine Selbstdefinition, die übrigens bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren hat, wie es die aktuelle Minderheiten und Menschenrechtspolitik in der Türkei zeigt. Bei der Leugnung des Genozids an den Armeniern durch die Türkei geht es also um weitaus mehr, als allein um das Abstreiten der historischen Tatsache des Genozids. Es geht nicht allein um die türkische Vergangenheit, sondern immer noch um die Gegenwart und Zukunft, um die Gültigkeit des türkischen Nationalismus. Aber ich freue mich doch darüber, dass nach und nach auch in der Türkei kritische Stimmen hörbar werden.

derStandard.at: Der türkische Botschafter in Österreich, Selim Yenel, spricht in einem Gastkommentar von einer "Verteidigungsmaßnahme" des Osmanischen Reichs. Eine gerechtfertigte Darstellung?

Dabag: Der Kommentar von Herrn Yenel spiegelt die offizielle Positionen der Türkei wider, wie sie vielfältig propagiert und entsprechend auch bekannt sind ? und zwar seit 90 Jahren. Denn die Jungtürken haben in ihrem Jahreskongreß 1916 die Deportation und Vernichtung der Armenier mit genau diesen Argumenten begründet.

Diese Behauptung ist damit selbst ein zentrales Muster der Leugnungsstrategien: Zweifel zu wecken, Für und Wider gegeneinander abzuwägen, Argumente und Gegenargumente zu formulieren und letztlich den Tatbestand des Genozids in einem endlosen Zirkel von Argumenten zu verwischen.

derStandard.at: Botschafter Yenel stellt außerdem in Abrede, dass im Fall der Armenier von Völkermord gesprochen werden könne, da dies nicht der Definition von Völkermord nach der UN-Konvention aus dem Jahre 1948 entspreche. Wie sehen Sie das?

Dabag: Wissen Sie, hier begeben wir uns auf eine Ebene, die in der Wissenschaft seit Jahren nicht mehr diskutiert wird. Völkerrechtler und Historiker haben längst bestätigt, dass die Politik der Jungtürken sämtliche ? subjektive und objektive ? Merkmale des Völkerrmordtatbestands im Sinne von Artikel II der UN- Konvention erfüllt. Die Absicht zur Vernichtung der Armenier wird zudem hinreichend durch Dokumente belegt.

derStandard.at: Der frisch gekürte Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk kritisiert das Gesetz als Einschränkung der freien Meinungsäußerung, wie sehen Sie das?

Dabag: Ich bin nicht der Meinung, dass dieses Grundrecht durch die Entscheidung der Nationalversammlung tatsächlich tangiert ist. Das französische Gesetz gewichtet ja nicht Meinungen, sondern es schützt ? darin analog zu den in verschiedenen europäischen Staaten gültigen Gesetzen gegen die Leugnung des Holocausts ? das Wissen um die Tatsächlichkeit des Genozids.

derStandard.at: Verhindert ein solches Verbot nicht eine Aufarbeitung der Geschichte?

Dabag: In der Tat meine ich, dass erst die Anerkennung eine wirkliche Aufarbeitung der Geschichte im Detail ermöglicht. Darauf hat übrigens bereits Raphael Lemkin ? jener Völkerrechtler, der den Begriff Genozid geprägt hat und maßgeblich an der Formulierung der UN-Genozidkonvention vom Dezember 1948 beteiligt war ? hingewiesen: Die juristisch-politische Anerkennung eines Genozids ist die notwendige Voraussetzung seiner historischen Erforschung, da sonst jede Beschäftigung in einen Zirkel von Leugnung und ihrer Widerlegung gezwungen wird.

derStandard.at: Es gibt eine Resolution des EU-Parlaments, die die Anerkennung des Völkermords zur Bedingung für den EU-Beitritt der Türkei macht. Würden Sie auch so weit gehen?

Dabag: Ja, ich würde durchaus so weit gehen. Ich halte diese Forderung sogar für eine Grundbedingung, und zwar für eine unverzichtbare und unverhandelbare.

Ich meine, wir haben uns in Europa nach der Erfahrung von Nationalsozialismus und Holocaust auf die Erinnerung und auf einen offenen Umgang mit der Geschichte verpflichtet. Die Erinnerung an dieses Verbrechen gehört zu den zentralen Identifikationsmomenten der Europäischen Gemeinschaft ? und ebenso die Nicht-Duldung der Leugnung. Dieses Grundprinzip können wir nicht aushöhlen. Europa ? und alles, worauf Europa gründet ? würde sonst seine Glaubwürdigkeit verlieren.

Zudem ist der Genozid an den Armeniern ja Teil der europäischen Geschichte. Er wurde im Schatten des Ersten Weltkriegs, inmitten der europäischen Entwicklungen und vor den Augen Europas begangen. Wie könnte Europa also auf die Anerkennung dieses Genozids verzichten bzw. ein Land in die EU aufnehmen, dass sich konsequent der kritischen Auseinandersetzung mit seiner Geschichte verweigert?

derStandard.at: In Frankreich gilt künftig für die Leugnung des Genozids an den Armeniern die gleiche Strafe wie für die Leugnung des Holocausts. Läuft man damit nicht Gefahr, den Holocaust zu verharmlosen?

Dabag: Im Gegenteil. Es bedeutet, die Erfahrung des Holocaust wirklich ernst zu nehmen, Konsequenzen aus dieser Erfahrung zu ziehen und auch Konsequenzen aus der Erfahrung mit der Leugnung des Holocaust zu ziehen.

derStandard.at: Vor fünf Jahren wurden Sie von der türkischen Botschaft in Deutschland als "eingeschworener Türkenfeind" bezeichnet, was sagen Sie zu diesem Vorwurf?

Dabag: Ich wüsste nicht, welche türkei- und türkenfeindlichen Äußerungen oder Handlungen ich getätigt hätte ? außer meiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit den letzen 100 Jahren des Osmanischen Reiches, den ideologischen Voraussetzungen des Genozids von 1915/16 sowie der Aufforderung an die Türkei, sich mit der eigenen Geschichte kritisch auseinanderzusetzen.

Wenn man dies zugrunde legte, so wären die "Türkenfeinde" recht zahlreich ? darunter nicht zuletzt der aktuelle Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk.

Als Genozidforscher sehe ich es jedenfalls als eine wichtige wissenschaftliche und auch humane Aufgabe an, der Leugnung von Völkermordverbrechen entgegenzutreten. Dies ist ein wichtiger Aspekt in den Überlegungen zur Entwicklung von Strategien zur erfolgreichen Vorbeugung und Verhinderung von kollektiver Gewalt. Es mag zunächst überraschen, dass sich (potentielle) Täter zumeist nicht von rechtlichen Konsequenzen abschrecken lassen. Genozid ist jedoch eine Tat, die nicht primär für die eigene Generation verwirklicht wird, sondern für die nachfolgenden Generationen, also für die Zukunft der Gesellschaft der Täter.

Vor diesem Hintergrund sind Überlegungen ernst zu nehmen, neben der Strafbarkeit von Völkermord auch die Strafbarkeit der Leugnung von Völkermord im internationalen Recht durchzusetzen, um auch die Nachfolgegesellschaften der Täter in die Prozesse sowohl der moralischen Aufarbeitung als auch der sozialen Verantwortung einzubeziehen. (derStandard.at/17.10.2006)