Heremias
17.10., Stadtkino, 11.00

Foto: Viennale
Unter den epischen Projekten im gegenwärtigen Weltkino ist das von Lav Diaz ohne Vergleich. Nirgendwo sonst werden die Register des Physischen und des Metaphysischen so miteinander vermittelt wie in den Filmen dieses philippinischen Regisseurs. Sie dauern gewöhnlich ungefähr ein halben Tag, und sie geben eine neue Ahnung davon, was Zeit in einem Land bedeutet, dessen Entwicklung sich nicht am Tempo der Weltwirtschaft misst, sondern am Schritt der Zugtiere, die noch immer das Verkehrsmittel der Armen sind.

Vier hoch beladene Wagen kommen in der ersten Einstellung des nicht ganz neunstündigen Heremias (Book One: The Legend of the Lizard Princess / Unang Anklat: Ang Alamat ng Prinsesang Bayawak) ins Bild. Es dauert lange, bis sich herauskristallisiert, dass es sich hier um Bauern handelt, die auf dem Weg in einen größeren Ort sind, um ihre Waren zu verkaufen.

Ein Tropensturm ist angekündigt, eigentlich wäre Eile angesagt, aber es geht nun einmal nicht schneller, als es geht. Heremias, die in sich gekehrte Hauptfigur, trennt sich an einer Straßenkreuzung von seinen Gefährten. Seine Motive werden nie ganz klar, er möchte allein weiterziehen, auch wenn ihn die anderen Leute aus seinem Barrio vor den Gefahren warnen. Heremias wird von dem Sturm erwischt, als er weit von einer Behausung entfernt ist.

Mühsam schlägt er sich durch, während die Elemente über ihn hinwegfegen. In einem leeren Haus findet er Zuflucht. Bald gesellen sich weitere Menschen dazu, die unterwegs sind. Heremias schläft ein, am nächsten Morgen ist er allein, sein Zugtier ist verschwunden, seine Waren ebenso, und sein Wagen wurde verbrannt.

Völlig verzweifelt macht Heremias sich nun daran, sein Recht zu suchen.

Die Polizei verlangt unverhohlen eine größere Summe Geldes von ihm, sonst würden sich die Ermittlungen nicht lohnen. Heremias spricht von der Regierung, und der Schuld der Institutionen gegenüber den Menschen. Die Leute klopfen ihm auf die Schulter und schicken ihn weg.

Warten auf Täter

So kehrt er schließlich, nachdem er in einem Gespräch aufgeschnappt hat, dass Täter häufig zu dem Ort ihres Verbrechens zurückkommen, zu dem Haus zurück.

Er verbirgt sich im Wald, und wartet. Dieses "alte Haus" in der Nähe eines Barrios (einer Dorfgemeinschaft), in dem sich nach dem Zweiten Weltkrieg viele Japaner versteckt hielten, sollte einmal von einer reichen Familie für die Arbeiter in deren Unternehmen gebaut werden. Ein nicht näher charakterisierter Unfall kam dazwischen, nun liegt das Gebäude wie eine Ruine da, die Abhängigkeiten und gescheiterte Modernisierung auf den Philippinen symbolisiert. Lav Diaz sucht für seinen Antihelden Heremias keine direkte Genugtuung. Stattdessen nimmt die Geschichte nach fast acht Stunden eine überraschende Wendung, das "Heil" von Heremias steht nun in einer anderen Weise auf dem Spiel.

Wie schon in dem knapp elfstündigen Evolution of a Filipino Family, der im Vorjahr auf der Viennale lief und zum cineastischen Geheimtipp wurde, ist auch in Heremias (Book One: The Legend of the Lizard Princess) die zehnminütige, ungeschnittene Einstellung die Grundeinheit der Erzählung, die in diesem Fall allerdings einfacher und linearer verläuft und vielfach direkt auf die Erfahrung von Zeit selbst zielt - wie lange dauert es, im Regen einen Baum beiseite zu schaffen?

Negativer Held

Heremias ist ein negativer Held, eine Leerstelle beinahe. In den seltenen Momenten, in denen er spricht, bangt man förmlich darum, dass er sein Wissen auch in die richtigen Worte bringt. Andererseits ist er natürlich ein positiver Held, unkorrumpiert und deswegen für die Opferrolle prädestiniert, wehrlos, aber hartnäckig - "a man alone", auch in einem metaphysischen Sinn.

Die Religion war in vielen Fällen die Instanz, auf die Menschen vertröstet wurden, die in der Gesellschaft keine Chance bekamen. Heremias geht selbst diesen Instanzenweg, er zieht buchstäblich vom Polizisten zum Pfarrer, und steht schließlich allein vor der letzten Instanz, dem Gott, an den zu glauben ihm auch seine Dorfältesten nahe legen.

Ausgelieferte Kreatur

So läuft die Geschichte von Heremias auf eine Theorie der Repräsentation hinaus, die alles in Frage stellt, was ein lineares Verständnis von Entwicklung und Moderne nahe legen würde.

Im Untertitel deutet Lav Diaz an, dass Heremias in einen größeren Erzählzyklus gehört, der mit dieser Fabel einen archetypischen Anfang nimmt. Das dezidierte Ziel: "Es braucht unbedingt eine eigene Perspektive, um den Filipino definieren und erlösen zu können."

Das Kino sieht auf den Menschen und die Natur, und findet keine zivilisatorische Differenz, sondern eine ausgelieferte Kreatur. Die Selbstermächtigung beginnt noch einmal bei Null. Dieses Wissen ist es, das Lav Diaz dem Westen voraus hat. (DER STANDARD, Printausgabe, 17.10.2006)