STANDARD: So viele Freunde wie seit dem Wahlabend hatte SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer noch nie in seinem Leben. Welche Erklärung hat die Netzwerkforschung dafür parat?

Harald Katzmair: In der Netzwerkanalyse spricht man vom Phänomen der "preferential attachments", also der "bevorzugten Anbindung". Wenn ich in einen Raum komme, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass ich mit jemandem eine Beziehung aufbauen möchte, der selbst schon zentral ist. Der Mensch hat einen sozialen Sinn, man möchte nahe den Wichtigen sein. Je wichtiger jemand wird, desto mehr wollen Beziehungen zu ihm oder ihr. Das ist der Schneeballeffekt der Macht.

STANDARD: Diese Umorientierung tritt unmittelbar ein?

Katzmair: Auch Wolfgang Schüssel war unbeliebt und wurde binnen kürzester Zeit mythologisiert. Die Zuordnung anderer Attribute ist offenbar eine Notwendigkeit - was wiederum ein Beweis dafür ist, dass es um die Positionen und weniger um die Personen geht.

STANDARD: Was passiert mit Netzwerken, die zwangsweise stillgelegt sind wie jene der SPÖ in den vergangenen sechs Jahren? Zerfallen sie, wenn sie nicht gebraucht werden?

Katzmair: Manche zerfallen, andere bilden so genannte "covert networks". Das sind kleine Cliquen mit in der Regel nicht mehr als fünf bis zwanzig Personen. Sie formieren sich im Hintergrund und bereiten sich auf ihren Part vor: Personalreserven für Ministerbüros, Konzepte erarbeiten. Das passiert aber nicht systematisch, sondern funktioniert im Falle der SPÖ extrem dezentral. Da gab es Dutzende Grüppchen.

STANDARD: Gibt es einen Trend innerhalb der Parteien weg von den klassischen politischen Vorfeld-Netzwerken wie Studentenorganisationen hin zu offeneren Strukturen?

Katzmair: Leider viel zu wenig oder eigentlich gar nicht. In den politische Parteien gibt es nach wie vor extrem klassische Reproduktionsformen. Das, was wir unter Networking verstehen, nämlich außerhalb des klassischen Apparates, passiert leider viel, viel zu wenig.

STANDARD: Warum?

Katzmair: Das hat mit der eigenen Logik politischer Parteien und Institutionen zu tun. Es gibt sehr viel Konkurrenz. Menschen investieren ihre gesamte Lebenszeit, um in diesen Apparaten erfolgreich zu sein. Dadurch entstehen extrem dichte, in sich geschlossene Netzwerke. In ihnen gibt es eine Inkompatibilität zwischen der eigenen Kultur und der Außenkultur. Das ist ein Riesenproblem.

STANDARD: Sehen Sie Alfred Gusenbauer als klassisches Produkt dieser Netzwerkwelt?

Katzmair: Absolut.

STANDARD: Hat das auch etwas Gutes?

Katzmair : Da gibt es zwei Schulen: Die einen sagen, das ist gut, weil er weiß, wie das politische Spiel funktioniert, und die Außenbeziehungen kommen im Moment der Macht ohnehin dazu. Die andere Schule sagt: Das ist schlecht, weil jemand mit einem Funktionärs-Mind-Set bestimmte Entwicklungen in der Welt schlicht und ergreifend kulturell nicht nachvollziehen kann. Das trifft auf Gusenbauer genauso wie auf Schüssel zu - und auf Großteile des politischen Systems und darauf, wie dessen Personal reproduziert wird. (Barbara Tóth, DER STANDARD, Printausgabe 14./15.10.2006)