Winterliche Allegorie einer Gesellschaft ohne Ziel: "Zemestan".

Foto: Viennale

Die iranische Hauptstadt Teheran zählt zu den großen Metropolen dieser Welt. Wer ein Bild davon bekommen möchte, wie sich der Übergang vom Land in die Stadt gestaltet, wie die urbanen Strukturen ganz an der Peripherie aussehen, der kann Zemestan (It's Winter) von Rafi Pitts wie einen Dokumentarfilm ansehen.

In den Schlafstuben an den Ausfallstraßen sammeln sich die Menschen im Iran, die ihr Heimatdorf verlassen haben, aber in der Hauptstadt nie angekommen sind. In den Betonhäusern unweit davon sitzen die Frauen mit ihren Kindern fest, die sich einmal auf dieses Eigenheim gefreut haben, die nun aber feststellen, dass sie von allen bürgerlichen Zusammenhängen abgeschnitten sind.

Poetische Zuspitzung

Der 1967 im Iran geborene, in England aufgewachsene Rafi Pitts ist allerdings nur in zweiter Linie Dokumentarist. In erster Linie ist er ein Spielfilmregisseur mit einem Hang zur poetischen Zuspitzung. Deswegen ist Zemestan vor allem eine Liebesgeschichte unter denkbar schlechtesten Vorzeichen, ein Melodram in einer Kultur, in der Gefühle nicht gezeigt werden sollen.

Khatoun hat kein Wort mitzureden, als ihr Mann Mokhtar sich eines Tages entschließt, das Land zu verlassen und an einem anderen Ort sein Glück zu versuchen. Seine Ehefrau, seine Tochter und die Schwiegertochter lässt er in bitterer Armut zurück. Khatoun ist keine Witwe, aber auch keine Ehefrau. Die Schwiegermutter achtet auf die Moral. Aus dem iranischen Norden ist der junge Marhab in die Gegend gekommen. Er findet Arbeit bei einer Autowerkstätte an der Überlandstraße. Er wird auf Khatoun aufmerksam und wirbt um sie so lange, bis sie eine zweite Ehe eingeht, ohne genau zu wissen, was aus Mokhtar geworden ist. Aber auch Marhab findet nicht die ökonomische Stabilität, die für ein glückliches Eheleben notwendig ist. Er scheint noch zu jung für die Pflichten eines Ernährers, auch er ist plötzlich der Meinung, dass er im Ausland mehr Geld verdienen könnte.

Rafi Pitts erzählt in seinem Film, der auf dem Buch Sahar von Mahmoud Dowlatabi beruht, von der Armut als Elementarerfahrung der iranischen Massen. Die islamische Revolution hat ihr Gerechtigkeitsideal nie eingelöst - darauf weisen die Filmemacher im Land immer eindringlicher hin.

Die Bilder eines tiefen Winters, mit denen Zemestan schließt, sind durchaus allegorisch zu sehen, wie auch das Bild eines Bahnhofs, von dem ein Zug abfährt, der kein lohnenswertes Ziel hat. Rafi Pitts verbindet die "neorealistischen" Strategien des iranischen Kinos (die Schauspieler kommen aus dem Volk, die Einstellungen sind reich in Detail und Hintergrund) mit einer bildhaften Erzählweise, deren Grundlagen wohl in der Literatur liegen und einem westlichen, nicht sprachkundigen Publikum weit gehend verschlossen sind. (Bert Rebhandl / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13.10.2006)