Bild nicht mehr verfügbar.

Ein im Fernsehen ausgestrahltes Überwachungsvideo zeigt den Mordverdächtigen, wie er nach der Tat das Wohnhaus Anna Politkowskajas in Moskau verlässt.

Foto: AP/NTV
Trotz der großen internationalen Empörung über die Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja zweifeln in Russland viele, dass der Mord je aufgeklärt wird. Die Ermittlungen laufen in mehrere Richtungen, auch über ein Mordkomplott von Oligarchen wird spekuliert.

***

Die notorische Gleichgültigkeit der russischen Bevölkerung gesellschaftlich-politischen Prozessen gegenüber scheint gegenwärtig wenigstens kurz unterbrochen. In aller Munde ist der Mord an Anna Politkowskaja. Schier unmöglich war es Montagvormittag, einige Zeitungen, allen voran die Novaja Gaseta, zu erstehen. Seit dem Morgen war sie vergriffen. Für sie hatte die am Samstag getötete Journalistin ihre mutigen Enthüllungen über Menschenrechtsverletzungen im Tschetschenienkrieg geschrieben.

„Man hat sie gefürchtet, deshalb hat man sie getötet“, titelte ihre Zeitung. Eine Geschichte über Folter in Tschetschenien hätte Politkowskaja darin zum Wochenbeginn publizieren sollen. Dazu ist es nicht mehr gekommen.

Video aus Überwachungskamera

Wie die ermittelnden Behörden mittlerweile festgestellt haben, wurde sie von ihrem schwarz gekleideten Mörder bereits im Einkaufszentrum, von wo sie nach Hause fuhr, beschattet. Die Videoüberwachung im Geschäft zeigt zudem eine Komplizin. Der Mörder selbst wurde auch von der Überwachungskamera über Politkowskajas Hauseingang gefilmt. Dazu kommen Zeugenaussagen, die die Erstellung eines Phantombildes ermöglichten. Ein Ermittler erzählte der Zeitung Vremja Novostej, dass die Mordauftraggeber Politkowskaja offenbar schon seit Langem beobachten ließen, ehe sie am festgesetzten Tag den Killer auf sie ansetzten. Im Übrigen wurde Politkowskaja bereits im Vorjahr zweimal von Unbekannten aufgelauert und ihr Auto schwer beschädigt.

Am Montag waren weder Täter noch Auftraggeber ausgeforscht. Dass es möglicherweise – wie bei früheren Morden – auch gar nie dazu kommen wird, wurde gerade von der marginalisierten russischen Opposition befürchtet: „Der Auftraggeber wusste, dass er nicht entdeckt werden wird“, sagte einer der renommiertesten russischen Menschenrechtler, Sergej Kowaljow. „Solange es unsere Zeitung gibt, werden die Mörder nicht ruhig schlafen“, gab sich indes Politkowskajas Redaktionsteam kämpferisch, kündigte eigene Ermittlungen an – die Herausgeber setzten eine Belohnung von 740.000 Euro für Hinweise auf die Mörder aus.

Spekulationen über Hintergründe

Die Zeitung selbst spricht von zwei möglichen Tathintergründen. Entweder die Rache des moskautreuen tschetschenischen Premiers Ramsan Kadyrow, der letzte Woche 30 geworden ist und nun auch den tschetschenischen Präsidentenposten beanspruchen kann. Diese Feindschaft aber war bekannt, weshalb ein Mordauftrag seitens Kadyrows nicht logisch scheint. Kadyrow äußerte am Sonntag sein Bedauern über den Mord. Als zweite Version werden Gruppen genannt, die den Verdacht auf Kadyrow lenken und ihn so vor einem Karrierensprung kompromittieren wollen.

Politkowskaja hatte freilich viele Feinde. So vor allem unter russischen Militärs und Geheimdienstlern, gegen deren Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien sie anschrieb. Daneben wird auch die Version einer politischen Provokation aus dem Ausland geprüft. Darüber, dass exilierte Oligarchen, wie Ex-Yukos-Manager oder Putinfeind Boris Beresowski, Putin vor der Welt diskreditieren wollen, spekuliert die kremlfreundliche Isvestija. In jedem Fall aber könne man den jetzigen Mord sowie den am Vizezentralbankchef Andrej Koslow vor einem Monat als Anzeichen eines sich zuspitzenden Machtkampfes innerhalb der russischen Elite vor den Präsidentschaftswahlen 2008 sehen, meint Nikolaj Petrov vom Moskauer Carnegie-Zentrum. (DER STANDARD, Printausgabe, 10.10.2006)