Anna Politkowskaja war eine penible Rechercheurin und eine hartnäckige Reporterin. Redaktionsstuben lagen ihr nicht. Sie wollte ins Leben, zu den Wurzeln des Elends.

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Das ganze Gerede rund um ihre Sicherheit könne sie schon nicht mehr hören. Und auch die Mutmaßungen darüber, wie sehr sie unter Beobachtung des russischen Geheimdienstes stehe, gingen ihr allmählich auf die Nerven, erzählte Anna Politkowskaja vor gut zwei Jahren in einem Interview mit dem Standard. Eine Zeit lang war sie von Leibwächtern geschützt. Zuletzt hat sie darauf verzichtet. Samstag wurde sie mit Kopfschüssen am Eingang ihres Hauses in Moskau ermordet.

Unerschrockenheit hat sie ausgezeichnet. Kompromisslosigkeit, wenn es um das ging, was der vergewaltigte Begriff der Menschenrechte ursprünglich wohl bezeichnete - die Würde des Menschen zu verteidigen, frei von Zwang und Unterdrückung sein Leben leben zu können. Im Redaktionszimmer zu sitzen, langweile sie, sagte sie. Sie müsse hinein ins Leben. Dorthin, wo es sich abspiele. Wo das menschliche Elend sich häuft und systematische Wurzeln hat. Kein Platz im Russland der letzten Jahre bot mehr von den menschlichen Grausamkeiten als Tschetschenien. Dass wir davon erfahren haben, verdanken wir zu einem beträchtlichen Teil Anna Politkowskaja, die Tschetschenisch lernte und über all die sechs Jahre des grausamen Konfliktes berichtete.

Material, nicht Analyse

Nicht die politische Analyse war die Stärke der 48-jährigen Mutter zweier Kinder. Sie lieferte das Material, aus dem andere ihre Schlüsse zogen. Ihr Genre schlechthin war Investigation und Reportage. Und dabei tat sie das wahrlich Unerhörte: Aus der Überzeugung, dass Elend nicht nur als anonymes Gesamtphänomen stattfindet, sondern von konkreten Menschen verursacht wird, nannte sie Namen. Das ist die Schwelle, hinter der in Putins Russland die Gefahr tödlich werden kann. Nicht die Kritik als solche ist gefährlich, gefährlich ist die Verletzung der Anonymität.

Das wusste Politkowskaja genau. 2001 schon wurde sie von ihrer Zeitung Novaja Gaseta beurlaubt und aus Sicherheitsgründen für einige Monate ins Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen geschickt. Die russischen Behörden hatten zuvor angedeutet, dass sie für Politkowskajas Sicherheit nicht mehr bürgen könnten. Von Militärs, aber auch von "Personen von hohem Rang" im russischen Verteidigungs- und Innenministerium habe sie Drohungen erhalten, sagte sie.

Anschlag?

Auch andere Vorfälle der letzten Zeit deuteten an, dass es um Sicherheit und Stabilität doch nicht so gut bestellt ist, wie die Herolde der Putin'schen Errungenschaft dies glauben machen wollen. Politkowskaja gelangte unmittelbar nach der Geiselnahme in Beslan 2004 unter dubiosen Umständen nicht an den Ort des Geschehens. Im Flugzeug trank sie Tee, verlor das Bewusstsein und wachte erst beim ärztlichen Versorgungspunkt am Flughafen wieder auf. Ob es ein Vergiftungsanschlag war, blieb offen.

Politkowskaja blieb ein Dorn im Auge der russischen Staatsführung. Ungebremst machte sie weiter. Schrieb Bücher und erzählte weltweit von den Menschenrechtsverletzungen, die russische Militärs, aber auch tschetschenische Widerständler in Tschetschenien verübten.

Weltöffentlichkeit

Dass sie international zur Ikone eines unerschrockenen Journalismus wurde, bedeutete ihr nur insofern etwas, als sie hoffte, damit die Aufmerksamkeit der Welt auf den russischen Schandfleck zu ziehen. Auch beschäftigte sie die Frage, wie die Menschen in Russland selbst angesichts des medialen Einheitsbreis zu einer relativierenden Gegeninformation kommen. Illusionen dazu hatte sie nicht.

Aber Politkowskaja wusste um das Gewicht ihrer Person - in der Welt und in Tschetschenien. Sie half Müttern umgekommener Soldaten vor Gericht. Und als andere namhafte Personen aus der russischen Politik ob der Gefahr kniffen, ging sie im Herbst 2002 während der Geiselnahme im Moskauer Theater Nord-Ost als Vermittlerin in den Saal. "Ich bin's, die Politkowskaja", rief sie den Geiselnehmern zu. Den blutigen Ausgang konnte sie nicht verhindern. Man hätte mit den Terroristen verhandeln können, sagte sie später. Die Staatsmacht habe dies nicht wollen. Auch darüber hat sie zuletzt recherchiert. (Eduard Steiner aus Moskau, DER STANDARD, Printausgabe 9.10.2006)