Am 4. November 1956, früher Nachmittag, setzte der "Freiheitssender Raab" einen Notruf ab: "Wir appellieren an die Nationen des Westens - SOS, SOS!" Die Stimme überschlug sich aufgeregt: "Das Volk verblutet! Helft uns, helft uns, rettet unsere Seelen!" Es war das letzte Aufbäumen Verzweifelter; doch die erflehte Hilfe blieb aus. Stattdessen wurde die Welt in den darauf folgenden Tagen Augenzeuge einer erbarmungslosen Militäroperation. Panzer und Soldaten der Sowjetarmee schlugen eine Revolution nieder, die als Ungarn-Aufstand in die Geschichte eingehen sollte.

Noch bis zuletzt hatte es Hoffnung gegeben. Nach den ersten Demonstrationen am 23. Oktober und den darauf folgenden vordergründigen Zugeständnissen Chruschtschows an die neue ungarische Regierung Nagy hatte es für wenige Weltminuten so ausgesehen, als hätte sich das Volk tatsächlich zum Souverän küren können. Doch es war ein Irrtum. Der Versuch, sich aus der Umklammerung der UdSSR zu lösen, wurde nicht toleriert. Das erste Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs hatte es ein Satellit Moskaus gewagt, die Umlaufbahn zu verlassen. Zwölf Jahre vor Anbruch des Prager Frühlings und mehr als 30 Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer sollte eine Nation zu spüren bekommen, wie unbeweglich die politischen Blöcke damals noch nebeneinander lagen. Jedes Individuum, das aufzubegehren versuchte, wurde zwischen ihnen zerrieben. 2652 Ungarn - zumeist Arbeiter und Studenten - sollten 1956 ihr Leben lassen; 180.000 flohen über die österreichische Grenze gen Westen.

Nun, pünktlich zum Jahrestag dieser Revolution und des gescheiterten Kampfes für nationale Unabhängigkeit, haben zahlreiche Autoren ihre Erinnerungen an diese Oktobertage veröffentlicht. Die Vielzahl der Publikationen trägt dabei dem Umstand Rechnung, dass selbst 50 Jahre nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung noch immer kein Konsens über die Memorierung gefunden werden konnte. Die ungarische Gesellschaft - die jüngsten Demonstrationen gegen die Regierung Gyurcsány haben es erneut ans Tageslicht gebracht - ist tief gespalten.

Auch wenn die Geschichtsschreibung das Wort "Ungarn-Aufstand" stets im Singular verwendet, vor 50 Jahren fand die Revolution im Plural statt. Die Liste der handelnden Protagonisten ist lang und ihre Forderungen waren unterschiedlich. Bis heute finden sich ihre historischen Nachlassverwalter daher in unzähligen Interessen,gruppen wieder. Da gibt es die "Partei der Sechsundfünfziger", die "Kameradschaft vom Szénaplatz", den "Ungarischen Verband der Aufständischen" oder gar den "Weltverband der Authentischen Ungarischen Freiheitskämpfer". Schwer ist es, in einem solchen Tohuwabohu konkurrierender Erinnerungen noch die Übersicht zu behalten.

Zwei Publikationen indes schaffen es, aus den oftmals divergierenden Histörchen eine einheitliche Historie zu formen. Zu danken ist dies dem Wiener Publizisten und Südosteuropaexperten Paul Lendvai sowie dem seit Jahren in Berlin lebenden ungarischen Schriftsteller György Dalos. Beide haben nun eine detaillierte Darstellung des Revolutionsherbstes 1956 vorgelegt.

Die zwei Autoren eint der Umstand, Augenzeuge der Revolution gewesen zu sein. Dalos war zum Zeitpunkt der Ereignisse 13 Jahre alt und drückte die Schulbank eines Budapester Gymnasiums; der damals 27-jährige Lendvai war bereits als Journalist für oppositionelle Zeitungen tätig. Unter dem ungarischen Stalinisten Rákosi hatte er im Gefängnis gesessen; ein Jahr nach der Revolution verließ er sein Heimatland für immer.

So ungleich die Lebensläufe der beiden Autoren sind, so verschieden sind auch oft ihre Annäherungen an diese ungarischen Schicksalstage. Auch wenn sich ihre Einschätzungen gleichen und sie die "authentische antitotalitäre Revolution" im Rückblick als eine "siegreiche Niederlage" der Demokratiebewegung beschreiben, so fokussieren sie doch immer wieder verschiedene Begebenheiten. Besonders Lendvai ist es, der in seiner Geschichte des Ungarn-Aufstands großes Augenmerk auf die weiteren Entwicklungen bis zum Wendeherbst 1989 legt. Zudem unterschlägt er nicht das Scheitern des Westens, der über den Münchner Sender Freies Europa - von den Ungarn damals liebevoll "Budapest 3" genannt - Versprechungen machte, von denen er wusste, dass er sie nicht einlösen würde.

Lendvai greift als erfahrener Wissenschaftspublizist nicht nur auf weitaus größere Ansammlungen von Originaldokumenten und Sekundärliteratur zurück; er versteht es auch, diese Um- und Nebenwege der historischen Deutung mittels Fußnoten zu verbinden. Der Literat Dalos ist diesbezüglich argloser. Wo Lendvai auf Exaktheit pocht, da vertraut er auf die Macht der Sprache, fügt kulturphilosophische Gedankensplitter in seinen Text ein oder zitiert ungarische Künstler wie etwa den Dichter Gyula Illyés. Die Tyrannei, so hatte der bereits zu Zeiten des ungarischen Stalinismus geschrieben, sei nicht nur in den Gefängnissen und Gewehrläufen beheimatet, sie befände sich auch in den "Küssen zum Abschied, wenn die Frau fragt: ,Wann kommst du wieder?'" Sowohl Lendvai als auch Dalos gelingt es, diese paranoide Grunderfahrung präzise wiederzugeben. Dieser Ausnahmezustand der Menschlichkeit ist es wohl letztlich gewesen, der das Volk gegen die Lügen und die Gewalt der ungarischen KP auf die Straße trieb.

Mochte dieser erste, große "Versuch, in der Wahrheit zu leben" auch scheitern, für beide Autoren war er nur das Vorspiel auf dem Theater. Noch oft sollte die durch die Verträge von Jalta zusammengeflickte Welt in den folgenden Dekaden das Zittern spüren, wenn irgendwo im Osten ein Volk erneut erkannte, wer Herrscher und wer Diener ist. Ungarn war noch nicht der Durchbruch, aber für die Wahrhaftigkeit war es ein Etappensieg. (Ralf Hanselle/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7./8. 10. 2006)