"Gauß kam auf den Zufall zu sprechen, den Feind allen Wissens, den er immer habe besiegen wollen. Aus der Nähe betrachtet, sehe man hinter jedem Ereignis die unendliche Feinheit des Kausalgewebes. Trete man weit genug zurück, offenbarten sich die großen Muster. Freiheit und Zufall seien eine Frage der mittleren Entfernung, eine Sache des Abstandes."

Was der junge österreichische Schriftsteller Daniel Kehlmann einer seiner Hauptfiguren in "Die Vermessung der Welt" (Rowohlt 2005) - dem Mathematiker und "Finder" der "Normalverteilungs-Kurve" (Illustration oben) Carl Friedrich Gauß - in den Mund legt, wurde nicht nur titelgebend für das Standard-"Montagsgespräch" im Haus der Musik, sondern auch Leitmotiv: "Die Vermessung der Wahl." Sie sollte mit etwas Abstand und Distanz analysiert und auf ihr politisches Verwerfungs- und Zukunftspotenzial überprüft werden.

Erklärungen

Standard-Chefredakteur Gerfried Sperl wollte zuerst die allgemein proklamierte "Überraschung" - die Überrundung der Kanzlerpartei ÖVP durch die Bawag-gebeutelte SPÖ - ausloten und von Michael Frank, Korrespondent der Süddeutsche Zeitung in Wien, market-Meinungsforscher Werner Beutelmeyer, Philosophieprofessorin Elisabeth Nemeth von der Uni Wien und Hans Hurch, dem Leiter des Viennale-Filmfestivals, wissen, wie sie sich denn das Wahlergebnis erklären.

Philosophin Nemeth hätte eigentlich bloß an die Wahlprognose einer älteren Dame aus ihrer Nachbarschaft - "ÖVP-Urgestein, sehr katholisches Milieu" - glauben müssen und wäre unüberrascht geblieben: "Ich sag's dir, die werden untergehen" - hatte deren Bauchgefühl schwarz gesehen. Nemeth erklärte den VP-Absturz durch eine zu exzessive "Österreich-Rhetorik" der Volkspartei, die gehofft habe, dass ihre Bilder und Slogans "sicher positiv aufgeladen sind". Waren sie offensichtlich nicht. Zudem habe die Vereinnahmung des "Österreich-Labels" durch die Kanzlerpartei vor den realen Lebensverhältnissen vieler Menschen die inhaltliche Leere des Wahlkampfs erst recht offenkundig werden lassen, meinte die Philosophin. Die Wahlkampfsager seien mit der Realität kollidiert. "Er kann's - das ist nicht reingegangen." Die ÖVP habe "wesentliche Teile ihre Klientel nicht mehr erreicht", etwa an den Unis.

Haupttäter mit dabei

SZ-Korrespondent Michael Frank überraschte das kollektive Überraschtsein am meisten: "Dass man die Änderung für eine Wende oder epochal hält, obwohl sie es nicht ist. Der ,Haupttäter' der letzten sechs Jahre ist mit dabei. Und viele ,Übeltaten' der letzten sechs Jahre sind unter Anteilnahme der SPÖ geschehen", meinte er im Hinblick auf die heraufdräuende rot-schwarze Koalition. Er habe hier zu Lande eine "Arroganz der Macht" seitens der ÖVP beobachtet, die fast schon "CSU-Dimension" wie in seiner Heimat Bayern angenommen habe. Der "Identifikationsanspruch einer Partei mit ,der Heimat'" und die "unsägliche Formel Rot-Weiß-Rot" hätten zu einem verhängnisvollen "Überziehen des patriotischen Gefühls" geführt.

Demoskop Beutelmeyer interpretierte das Wahlergebnis als "massiven Wunsch nach mehr politischer Stabilität und weniger Abenteuer. Die Menschen möchten eine berechenbarere Politik" - eine Umschreibung für die große Koalition. Warum hat der immer niedrigere Sympathiewerte einfahrende SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer "gewonnen", also weniger verloren als Kanzler Wolfgang Schüssel? "Offenkundig ging es nicht um den Kanzler. Es ging nicht um Personen, sondern zunehmend um Themen wie Bildungs- und Sozialpolitik. Themen, die von der ÖVP nicht aufgegriffen wurden. Eine kardinale Fehlpositionierung", meinte der Meinungsforscher.

Nur Regierte

Viennale-Chef Hurch meinte: "Österreich ist nie wirklich Republik geworden. Dieses Land hat keine Staatsbürger, sondern nur Regierte." Der Mangel an "republikanischem Selbstbewusstsein" äußere sich dialektisch: "Man unterwirft sich und will es den Politikern zeigen." Schüssel sei "abgestraft" worden. "Einenicht sehr reife Art, mit Obrigkeit umzugehen, aber eine sehr österreichische."

Eine Rückbesinnung auf republikanisches Bürgertum forderte auch Nemeth angesichts des Wahlabends: Niemand außer Grünen-Chef Alexander Van der Bellen habe der Definition "bürgerliches Lager von ÖVP bis Strache-FPÖ widersprochen. Das wäre 1999 nicht gegangen", meinte Nemeth, die besorgt eine "Konsolidierung des Anerkennens von extrem rechten Positionen und eine Gewöhnung" beobachtet: "Das sind sehr eigenartige Voraussetzungen für die Zukunft. Die große Koalition wird gemessen an den Rechtsradikalen." Weder SPÖ noch ÖVP hätten sich vom "sehr aggressiven Ausländerwahlkampf" distanziert. "Ein Skandal der Sonderklasse."

Laut Beutelmeyer haben sich die Großparteien über ihren "blinden Fleck" Fremdenpolitik "nicht drübergetraut".

"Nicht ganz so pessimistisch" ist Frank von der Süddeutschen. Waldheim-Debatte und das schwarz-blaue Eröffnungsjahr 2000 seien "eine Impfung" gewesen. Danach sei es eher möglich gewesen, NS-Opfer-Entschädigung und Restitution zu realisieren: "Vor 15 Jahren hätte das einen Sturm der Entrüstung gegeben. Der wirkliche Bürgermut ist in den sechs Jahren beträchtlich gewachsen."

Gelegenheit für diesen Bürgermut gäbe es für eine große Koalition, meinte Filmexperte Hurch: "Sie wird daran gemessen, was mit den rechtspopulistischen Parteien passiert. Diese politische Kultur muss die große Koalition beweisen." Haider sei im Windschatten von Rot-Schwarz groß geworden. Es sei Zeit, dass sich Geschichte nicht wiederhole. (Lisa Nimmervoll/DER STANDARD, Printausgabe, 4.10.2006)