Michaelerkuppel
Im Gegensatz zur klassischen Handschriftensammlung archiviert man hier auch Gedrucktes und diverse Lebenszeugnisse, vom Einkaufszettel bis zur Steuererklärung. Gesammelt werden im Literaturarchiv in der Michaelerkuppel, der geänderten Schreibpraxis entsprechend, natürlich auch digitale Datenträger von der Diskette bis zur Festplatte - eine Riesenherausforderung, veraltet die Technik doch rasend schnell, weshalb man zur Sicherheit auch die Ausdrucke aufbewahrt.
Podiumsdiskussion
Da wird der Stoßseufzer verständlich, den der ÖLA-Mitarbeiter Klaus Kastberger bei einer Podiumsdiskussion anlässlich des Zehn-Jahre-Jubiläums in die Form einer Frage kleidete: Ob man denn wirklich alles sammeln müsse?
Abgesehen von der eigentlichen Archivarbeit hat sich das Österreichische Literaturarchiv in seinen ersten zehn Jahren als eine der wichtigsten einschlägigen Forschungsstellen im deutschsprachigen Raum etabliert. Die Publikations-Reihe Profile (Zsolnay) schöpft aus dem Vollen der Bestände, neue Werkausgaben zu Ödön von Horváth und Albert Drach entstehen, Symposien und Ausstellungen werden veranstaltet.
Räumlichkeiten
Dabei hatte sich die Gründung dieser heute unentbehrlich anmutenden Einrichtung lange verzögert und war dann nur etappenweise erfolgt: 1989 gab es einen ministeriellen Erlass sowie einen Namen, aber weder Räumlichkeiten noch Personal - eine "österreichische Lösung", wie Wendelin Schmidt-Dengler, der Leiter des Archivs und Spiritus Rector seiner Materialisierung, beim Festakt im Aurum der Nationalbibliothek ironisch bemerkte. 1996 wurde aus dem virtuellen Archiv ein reales, das heute der Forschung, auch der studentischen, zum Quellenstudium offen steht.
Konkurrenz im Wiener Rathaus
Die im letzten Jahrzehnt deutlich gestiegenen Preise für Autografen haben dem Ankauf weiterer Nachlässe Grenzen gesetzt - der allzu teure Gerhard Fritsch ging an die Konkurrenz im Wiener Rathaus, und Marlen Haushofer ist skandalöserweise postum immer noch unbehaust. Einerseits will Schmidt-Dengler keine "Trophäen" sammeln, für die es, saure Trauben, freilich auch an den Mitteln fehlt; andererseits liegt es am Angebot. Nicht umsonst hat Wilhelm Dilthey schon 1889 unverständige Erben an erster Stelle der Gefahren für das literarische Erbe einer Nation genannt - noch vor den Mäusen und den Elementen.
Jandls Jazzplatten
Bei den zeitgenössischen Schreibenden, zur Zeit immerhin rund 2000, geht es nicht ohne strenge Auswahl. So wirkt ein Literaturarchiv nolens volens am nationalen Kanon mit. Immer häufiger kommt es, zu Lebzeiten des Autors, zum Kauf von "Vorlässen": Josef Haslinger blickt auf den Pakt mit dem Nachruhm mit gemischten Gefühlen - irgendwie, meinte er beim ÖLA-Jubiläum, blicke ihm nun der Tod ständig über die Schulter, auch habe er sich der Einfachheit halber entschlossen, gleich alles Private mit preiszugeben. Eine Horrorvorstellung für Antonia S. Byatt (Besessen), die, wiewohl selbst archivsüchtig, mit feiner Klinge gegen den nicht nur in England grassierenden Biografismus zu Felde zog.
"Ihren Sitz im Leben"
Künftig werden also Josef Haslingers Lieblingslieder genauso wie Ernst Jandls Jazzplatten oder der Schlafrock Heimito von Doderers dazu beitragen zu zeigen, dass die Literatur, unter all dem Staub des Archivs, "ihren Sitz im Leben hat" (Schmidt-Dengler).