Nicht nur der Schlafrock, auch die Manuskripte Heimito von Doderers lagern im ÖLA. Hier eine Konstruktionsskizze für den Roman "Die Dämonen".

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"Nichts verloren gehen zu lassen ist eine Hauptregel, Papierschnitzel ebenso wie Zeit." Was tun, wenn dieser Grundsatz Georg Christoph Lichtenbergs eine Doublebind-Situation heraufbeschwört, zum Beispiel in einem Archiv? Im Österreichischen Literaturarchiv (ÖLA) geht tatsächlich kein Papierschnitzel verloren, die Sammeltätigkeit kostet aber nicht nur viel Zeit, sie beansprucht außerdem viel Platz.

Michaelerkuppel

Im Gegensatz zur klassischen Handschriftensammlung archiviert man hier auch Gedrucktes und diverse Lebenszeugnisse, vom Einkaufszettel bis zur Steuererklärung. Gesammelt werden im Literaturarchiv in der Michaelerkuppel, der geänderten Schreibpraxis entsprechend, natürlich auch digitale Datenträger von der Diskette bis zur Festplatte - eine Riesenherausforderung, veraltet die Technik doch rasend schnell, weshalb man zur Sicherheit auch die Ausdrucke aufbewahrt.

Podiumsdiskussion

Da wird der Stoßseufzer verständlich, den der ÖLA-Mitarbeiter Klaus Kastberger bei einer Podiumsdiskussion anlässlich des Zehn-Jahre-Jubiläums in die Form einer Frage kleidete: Ob man denn wirklich alles sammeln müsse?

Abgesehen von der eigentlichen Archivarbeit hat sich das Österreichische Literaturarchiv in seinen ersten zehn Jahren als eine der wichtigsten einschlägigen Forschungsstellen im deutschsprachigen Raum etabliert. Die Publikations-Reihe Profile (Zsolnay) schöpft aus dem Vollen der Bestände, neue Werkausgaben zu Ödön von Horváth und Albert Drach entstehen, Symposien und Ausstellungen werden veranstaltet.

Räumlichkeiten

Dabei hatte sich die Gründung dieser heute unentbehrlich anmutenden Einrichtung lange verzögert und war dann nur etappenweise erfolgt: 1989 gab es einen ministeriellen Erlass sowie einen Namen, aber weder Räumlichkeiten noch Personal - eine "österreichische Lösung", wie Wendelin Schmidt-Dengler, der Leiter des Archivs und Spiritus Rector seiner Materialisierung, beim Festakt im Aurum der Nationalbibliothek ironisch bemerkte. 1996 wurde aus dem virtuellen Archiv ein reales, das heute der Forschung, auch der studentischen, zum Quellenstudium offen steht.

Konkurrenz im Wiener Rathaus

Der soeben erschienene Band Österreichisches Literaturarchiv. Die ersten 10 Jahre (Praesens) informiert nicht nur umfassend, er enthält auch eine CD-ROM mit Dichterstimmen. Der Sammelschwerpunkt liegt auf der Literatur nach 1945, gerade die prominenten Nachlässe (von Horváth, Drach, Manès Sperber oder Hilde Spiel) reichen jedoch in die Erste Republik zurück. Mit Erich Fried und Ernst Jandl sind zwei der bekanntesten Lyriker der Nachkriegszeit im ÖLA vertreten.

Die im letzten Jahrzehnt deutlich gestiegenen Preise für Autografen haben dem Ankauf weiterer Nachlässe Grenzen gesetzt - der allzu teure Gerhard Fritsch ging an die Konkurrenz im Wiener Rathaus, und Marlen Haushofer ist skandalöserweise postum immer noch unbehaust. Einerseits will Schmidt-Dengler keine "Trophäen" sammeln, für die es, saure Trauben, freilich auch an den Mitteln fehlt; andererseits liegt es am Angebot. Nicht umsonst hat Wilhelm Dilthey schon 1889 unverständige Erben an erster Stelle der Gefahren für das literarische Erbe einer Nation genannt - noch vor den Mäusen und den Elementen.

Jandls Jazzplatten

Bei den zeitgenössischen Schreibenden, zur Zeit immerhin rund 2000, geht es nicht ohne strenge Auswahl. So wirkt ein Literaturarchiv nolens volens am nationalen Kanon mit. Immer häufiger kommt es, zu Lebzeiten des Autors, zum Kauf von "Vorlässen": Josef Haslinger blickt auf den Pakt mit dem Nachruhm mit gemischten Gefühlen - irgendwie, meinte er beim ÖLA-Jubiläum, blicke ihm nun der Tod ständig über die Schulter, auch habe er sich der Einfachheit halber entschlossen, gleich alles Private mit preiszugeben. Eine Horrorvorstellung für Antonia S. Byatt (Besessen), die, wiewohl selbst archivsüchtig, mit feiner Klinge gegen den nicht nur in England grassierenden Biografismus zu Felde zog.

"Ihren Sitz im Leben"

Künftig werden also Josef Haslingers Lieblingslieder genauso wie Ernst Jandls Jazzplatten oder der Schlafrock Heimito von Doderers dazu beitragen zu zeigen, dass die Literatur, unter all dem Staub des Archivs, "ihren Sitz im Leben hat" (Schmidt-Dengler).

Die Gefahr, dass das nationale Literaturgedächtnis in Abgrenzung zum deutschen oder Schweizer Erbe zu einer chauvinistischen Übung entarten könnte, ist gering. Schließlich, so die Germanistin Konstanze Fliedl, bürgten allein die Namen der archivierten Autoren für gediegene Österreich-Kritik. (Daniela Strigl/DER STANDARD, Printausgabe, 3.10.2006)