Graz - Zweifellos ist ein Opernhaus nicht gerade jener Ort, an dem man einen immerhin doch nicht ganz ohne Spannung erwarteten Wahlabend zubringen möchte. Dies umso weniger, wenn die Vorstellung schon um 18 Uhr beginnt. Doch angesichts der schon zu diesem frühen Zeitpunkt nicht ganz unrealistischen Perspektive, dass Österreich die nächsten vier Jahre von einer Koalition der Stimmenverlierer regiert werden wird, tauchte man nur allzu gerne ab in die, im Fall dieser Grazer Carmen, geradezu mit unentrinnbarer Magie verzaubernde und vom Publikum zu recht bejubelte Unwirklichkeit des Musiktheaters.

Zumal es diese Produktion an Unwirklichkeit beileibe nicht fehlen lässt. Stefan Herheim, der 36-jährige Norweger, der dem Salzburger Festspielpublikum mit Mozarts Entführung einiges zum Auflösen gab und auch mit seiner an der Volksoper gezeigten Butterfly-Version für Diskussionen sorgte, klont Georges Bizets Carmen auf die erstaunlichste Weise zu einem atmosphärischen Double von Jacques Offenbachs Hoffmanns Erzählungen.

Carmen-Konventionen

Möglicherweise war das gar nicht Herheims Absicht. Diese lag offenbar in der Befreiung der Titelgestalt aus dem traditionellen Korsett von Schauplatz und Handlung. Auf seiner Flucht vor den üblichen Carmen-Konventionen findet er in einem von Heike Scheele mit imponierender Eindrücklichkeit großzügig auf die Bühne gebauten Museum Zuflucht.

Für den Zuschauer ist dieses museale Bizet-Asyl zunächst freilich einmal gewöhnungsbedürftig. Über eine Carmen, die als Putzfrau jobbt und den Besen schwingend ihre Habanera singt, darf man wohl überrascht sein. Weil man sich in einem Museum befindet, stehen offenbar auch haufenweise Maler mit Pinsel und Palette herum. Mit der Logik ist es fürs Erste auch nicht sehr weit her. Denn ein Rudel Zigaretten rauchender Soldaten dürfte nicht einmal in Wiens kunsthistorischem Museum sein Wesen treiben.

Gestalten

Doch spätestens im zweiten Akt beginnt Herheims Konzept voll zu greifen, geht die anfänglich abwartende Distanziertheit in Faszination über. Da wird nämlich das Museumsdepot zu Lillas Pastias Schenke. Von Schenke natürlich keine Spur. Vielmehr steigen die verschiedensten Gestalten aus den dort gelagerten Bildern, darunter Marilyn Monroe und Andy Warhol, Don Quichotte und Mona Lisa, und vereinen sich zu einem gespenstisch grellen Mummenschanz, der sich zu einem auch vom Publikum begeistert akklamierten Fanal steigert. Spätestens von diesem Augenblick an ist man in Herheims Fantasiewelt zu Hause. Personen und ihre Bilder greifen auch im Fall von Escamillo alternierend in das Geschehen ein.

Schlüssigkeit

Die Suggestivkraft der von Herheim arrangierten Gruppierungen - wie etwa die aus einem riesigen Bilderrahmen winkenden Stierkampfbesucher im Schlussbild - erhellt die Zusammenhänge beinah klarer als ein herkömmlich abgewickelter Handlungsverlauf.

Diese künstlerische Schlüssigkeit ist freilich nur mit einem so makellos präzisen und in gleicher Weise zündenden musikalischen Fundament erreichbar, wie sie das Grazer Philharmonische Orchester unter seinem neuen Chefdirigenten Johannes Fritzsch beisteuert. Die Klarheit der Soli und die Farbigkeit der Holzbläser rückten Bizets Carmen auch musikalisch stellenweise in überraschende Nähe zu Offenbachs Hoffmanns Erzählungen.

Vitalität

Ganz Carmen war allerdings Kirstin Chávez als geradezu ideale Gestalterin der Titelpartie. Die volle Pracht ihres technisch bestens gezügelten Mezzosoprans machte sie gemeinsam mit ihrer bestens dosierten darstellerischen Vitalität zum emotionalen Zentrum dieses Abends, dessen Besetzung insgesamt keine Schwachstellen aufwies:

Kate Ladner war eine Micaela von höchster lyrischer Dichte, und Jean-Pierre Furlan ließ in der Intensität, mit der er vor allem die Schlussszene gestaltete, etwas von Neil Shicoffs manischer Ekstase erkennen. Während Luis Ledesmas Escamillo in emotional eher gemäßigten Regionen unterwegs war. (Peter Vujica/DER STANDARD, Printausgabe, 3.10.2006)