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Populär trotz Korruptionsaffären: Präsident Lula da Silva könnte schon im ersten Wahlgang gewinnen.

Foto: REUTERS/WASHINGTON ALVES
Es ist fast wie in alten Zeiten. Der Platz vor der Markthalle im Stadtzentrum Porto Alegres verwandelt sich in ein buntes Fahnenmeer, als aus den Lautsprechern der rhythmische Wahlkampfsong des Kandidaten dröhnt: „Brasilien will weiter vorne bleiben mit dem ersten Mann aus dem Volk als Präsident ...“

Hinter dem Podium zeigt ein riesiges Foto Luiz Inácio Lula da Silva, wie er sich selbst am liebsten sieht: Ein lächelnder schwarzer Bub berührt die Wange des graubärtigen 60-Jährigen. Am Sonntag will der Ex-Gewerkschafter wiedergewählt werden. „Mit Lula hat sich unser Leben verbessert“, sagt Joyce Machado aus dem Armenviertel Vila Liberdade. Wie elf Millionen Familienmütter im ganzen Land bekommt die 32-jährige Müllsammlerin über das Sozialprogramm „Bolsa Família“ einen monatlichen Zuschuss von umgerechnet 34 Euro.

Neuer Skandal

Nach den neusten Umfragen dürfte sich der Staatschef schon im ersten Wahlgang mit über 50 Prozent der Stimmen gegen den rechten Sozialdemokraten Geraldo Alckmin durchsetzen, der bei knapp 30 Prozent Zustimmung liegt. Obwohl die Bundespolizei vor zwei Wochen zwei Mitglieder von Lulas Arbeiterpartei PT in einem Hotel von São Paulo mit umgerechnet 600.000 Euro Bargeld überraschte. Damit wollten sie ein belastendes Dossier gegen José Serra kaufen, den Favoriten der Sozialdemokraten für das Gouverneursamt in São Paulo. Mindestens acht Funktionäre der Arbeiterpartei sind in die Affäre verwickelt. Und wie schon 2005, als ein Skandal um angeblichen Stimmenkauf und die Umleitung von Staatsgeldern in schwarze Wahlkampfkassen zahlreiche PT-Größen zu Fall brachte, gehören die Verantwortlichen zum Umfeld des Staatschefs.

Der gibt sich auf der Kundgebung demonstrativ souverän. Die Geschichte mit dem „verdammten Dossier“ gegen Serra habe ihn selbst überrascht, beteuert Lula: „Jesus wusste nicht, dass Judas ihn verraten würde. Welche Zauberkräfte soll ich haben, damit ich über diese Dinge Bescheid wissen könnte?“

Doch trotz seiner anhaltenden Popularität hat sich in Brasilien auch Ernüchterung breit gemacht. Anders als vor vier Jahren verbinden die meisten Brasilianer keine übertriebenen Hoffnungen mehr mit Lula. Sie wissen, dass es Korruption in der Regierung gibt, ganz ähnlich wie früher. Doch das Volk ist pragmatisch. „Die Leute meinen, die Politiker sind alle gleich,“ sagt der grüne Abgeordnete Fernando Gabeira, „sie sagen, dann nehmen wir eben die, die uns ein bisschen mehr geben.“

Genau dies hat Lula meisterhaft verstanden. Mit dem Programm „Bolsa Família“ sieht der Präsident sein Versprechen eingelöst, dass sich zum Ende seiner ersten Amtszeit alle Landsleute drei Mahlzeiten täglich leisten können. Nicht um die Wahl zwischen zwei Kandidaten gehe es, sondern um den Konflikt zwischen dem „arbeitenden Volk“ und einer „aristokratischen Elite“, die Brasilien seit jeher beherrscht, tönt er. Dabei hat er sich schon längst zur Zusammenarbeit mit dieser Elite entschlossen. Sein wichtigster Verbündeter im Senat ist der Oligarch und Ex-Präsident José Sarney.

Viel Enttäuschung

Der frühere Bürgerschreck Lula hat eine Wirtschaftspolitik durchgesetzt, von der vor allem die Banken profitieren. Eine Umverteilung des Reichtums fand ebenso wenig statt wie eine Landreform. Viele Enttäuschte scharen sich deshalb um zwei PT-Dissidenten, die zusammen auf zehn Prozent kommen dürften.

„Lula hat kein Programm, er will weitermachen wie bisher“, sagt der Soziologe Francisco de Oliveira, „er entpolitisiert die Gesellschaft“. Sein Freund Frei Betto hingegen sieht – bei aller Ernüchterung – keine Alternative zum charismatischen Präsidenten. (Gerhard Dilger aus Porto Allegre, DER STANDARD, Print, 28.9.2006)