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Christoph Leitl fordert ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten" und ein stärkeres Parlament in Brüssel.

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Wirtschaftskammerchef Christoph Leitl plädiert für einen Bundesstaat Europa, in dem das Parlament die Kommission wählt. Bei der Erweiterung plädiert er im Gespräch mit Michael Moravec für einen vorsichtigen Kurs, um Populisten nicht "Tür und Tor" zu öffnen.

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STANDARD: Mehrere Studien kommen zu dem Schluss, dass die Länder, die ihre Arbeitsmärkte nach der EU-Erweiterung 2004 gleich geöffnet haben, davon sehr profitiert haben. Österreich und Deutschland wollen ihre Grenzen bis 2011 für Arbeitskräfte aus den neuen Staaten geschlossen halten. Ist das aus der Sicht der Wirtschaft befriedigend?

Leitl: Für Pendler aus Budweis oder aus Sopron wäre es weiterhin sehr attraktiv, nach Linz oder Wien zu Pendeln, das Dreifache zu verdienen und weiter in ihrem Heimatland zu leben. Da gibt es sicher Sorgen, möglicherweise übertrieben , aber Politik heißt immer auch, den Menschen Sicherheit zu geben. Sonst öffne ich Tür und Tor für die radikalen Populisten und Demagogen. Und darüber hinaus: Auch die Ungarn, die sehr unglücklich über die österreichische Position waren und von Diskriminierung sprachen, werden ihren Arbeitsmarkt für Rumänen und Bulgaren auch nicht gleich mit dem Beitritt der Länder öffnen.

STANDARD: Sind Sie für einen EU-Beitritt der Türkei?

Leitl: Die Erweiterung hat sich auf ein Tempo gesteigert, mit dem wir uns manchmal schon ein bisschen schwer tun. Mit der Türkei und der Ukraine würden wir Europa derzeit völlig überfordern. Überdies stehen wir vor einer wichtigen europäischen Weichenstellung, die wir zuerst behandeln müssen: Das eine ist die Möglichkeit einer großen Freihandelszone, wo alle weitergehenden politischen und sozialen Integrationsschritte abgelehnt werden. Exponent dieser Richtung ist Großbritannien. Und dann gibt es andere - ich sage nur Guy Verhofstadt (belgischer Premierminister, Anm.) und Jean-Claude Juncker (Premierminister Luxemburgs, Anm.), die sagen, wir benötigen eine Vertiefung zur politischen Union, um so handlungsfähig zu sein, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können - also eine Überlebensstrategie für Europa.

Da es aber keinen Kompromiss zwischen den beiden Positionen geben wird und auch nicht soll, da er nur verwässern würde, bin ich für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Auch beim Euro haben sich ja einige für mehr Integration entschieden als andere.

STANDARD: Und Österreich sollte in so einer Kerngruppe dabei sein?

Leitl: Die Notwendigkeit wird uns dazu zwingen, wenn die Erkenntnis dazu nicht kommt. Ich wundere mich, dass darüber nicht mehr gesprochen wird. Wir gehen davon aus, dass wir den toten Hund EU-Verfassung noch retten können, lassen wir das. Gehen wir nicht einen Schritt zurück hinter die Verfassung, sondern einen Schritt weiter. Die Menschen sind verunsichert. Warum? Wir haben 20 Millionen Arbeitslose in der EU, und es gibt kein Konzept. Die Kommission sagt, sie könne nichts tun, weil die Mitgliedsstaaten nichts machen. Wo ist eine abgestimmt Energiepolitik, wo eine gemeinsame Infrastrukturpolitik, wo ist das kluge Zusammenspiel in der Forschung? Ich bekenne mich zu einem europäischen Föderalstaat, allerdings mit föderal dreimal unterstrichen.

STANDARD: Wie könnte so ein europäischer Föderalstaat aussehen?

Leitl: Das Subsidiaritätsprinzip ist ganz wichtig. Europa braucht keine Zentralkompetenz, wohl aber eine koordinierende Kompetenz. Das kann ich als Vertreter der Wirtschaft nur dringend einmahnen.

STANDARD: Würde Sie ein Job in der Kommission reizen?

Leitl: Ein Job in der Kommission nützt überhaupt nichts. José Manuel Barroso (Kommissionspräsident, Anm.) und Günter Verheugen (Industriekommissar der EU, Anm.) sind glänzende Leute, aber durch den vorgegebenen Rahmen können sie nicht effektiver sein, als sie es sind. Was wir brauchen, ist ein starkes EU-Parlament, das die Kommission wählt. Das würde auch das demokratische Prinzip in der EU gewaltig stärken und auch die Legitimation der Kommission.

STANDARD: Welche Aufgabe hätten dann die Räte der nationalen Regierungschefs und Fachminister, die bisher die wichtigsten Entscheidungen treffen?

Leitl: Aus dem Rat und dem Ausschuss der Regionen könnte man eine zweite Kammer, einen Föderalrat, machen, in dem Länder, Regionen und Kommunen vertreten sind. Derzeit ist ja dieser Ausschuss der Regionen zum Krenreiben. Ich habe das lange selbst miterlebt.

STANDARD: Wäre das nicht dennoch eine weitere Zentralisierung der EU, wenn EU-Parlament und Kommission so aufgewertet würden? Leitl: Eine richtige Zuordnung von Verantwortung im Sinne von Föderalismus und Dezentralismus. Subsidiarität. Jede Ebene macht das, was sie machen kann. Aber wir wissen, dass wir heute gewisse Dinge nur gemeinsam schaffen werden. Wir haben Herausforderer wie China, Indien, die USA. Brüssel sollte sicher Verantwortung für die Rahmenbedingungs-Gesetzgebung bekommen. Das ist eine notwendige Erweiterung in Richtung Vertiefung.

STANDARD: Muss jedes Land immer einen Vertreter in der Kommission haben?

Leitl: Nein. Nur die Kompetenz sollte entscheiden. Wo soll Europa in zehn oder zwanzig Jahren sein? Wir müssen die Menschen von Europa wieder überzeugen. Dazu brauche wir Bewegung. Die Menschen haben ein sehr feines Gespür dafür, ob jemand etwas bewirken kann oder nicht. Derzeit sind die EU-Kommissare durch die Rahmenbedingungen in einem Hamsterrad. Sie strampeln und strampeln, kommen aber nicht vom Fleck. (DER STANDARD, Printausgabe 25.9.2006)