London/Berlin - Zweieinhalb Monate nach den ersten Erfolgsmeldungen des US-Genforschers Craig Venter hat das
internationale Human-Genom- Projekt (HGP) nach eigenen Angaben 97 Prozent des menschlichen Erbgutes entschlüsselt. Dabei gehe es
allerdings um einen "Arbeitsentwurf", der noch verfeinert werden müsse.
Trotz dieser Einschränkung sprachen Vertreter des Zusammenschlusses zahlreicher Forschungsinstitute am Montag in London von einer der
größten Leistungen der Menschheit, vergleichbar mit den Entdeckungen von Kopernikus und Charles Darwin. Auch in Paris, Tokio und
Berlin wurden die HGP-Ergebnisse auf Pressekonferenzen vorgestellt.
"Unsere Gene machen schließlich unser
Mensch-Sein aus"
"Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms ist mit dem ersten Menschen auf dem Mond verglichen worden, aber ich glaube, es ist mehr
als das", sagte Michael Dexter, der Direktor des britischen Hauptsponsors Wellcome Trust. "Unsere Gene machen schließlich unser
Mensch-Sein aus", sagte er. "Dieser Code ist die Essenz des Menschen, und so lange wie Menschen existieren, wird diese Information
wichtig sein und benutzt werden."
In einer Konferenzschaltung würden die Forschungsergebnisse am Nachmittag von US-Präsident Bill Clinton und dem britischen
Premierminister Tony Blair gewürdigt werden, kündigte Dexter an. In den USA sei auch eine gemeinsame Pressekonferenz des HGP mit
seinem Erzkonkurrenten Craig Venter von Celera Genomics geplant.
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Geschenk an die Menschheit
"Ich weiß nicht, was Mr. Venter in seiner Rede sagen wird", sagte Dexter. Er betonte aber, dass die entschlüsselten Erbinformationen der
ganzen Welt zugänglich gemacht würden. "Dies ist ein einzigartiges Geschenk an die Menschheit", sagte er.
Das staatlich geförderte HGP, an dem auch deutsche Institute beteiligt sind, hatte Venter in der Vergangenheit immer wieder kritisiert, weil
sich dieser die Entschlüsselung der Gene patentieren lassen wollte. Venters US-Unternehmen Celera Genomics hatte schon Anfang April die
Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes zu 99 Prozent verkündet. Experten hielten dieses Ergebnis allerdings für fragwürdig.
Bei der Präsentation der HGP-Ergebnisse in Berlin sagte Prof. Andre Rosenthal, der in Deutschland führend an der Entschlüsselung
mitwirkte: "Wir stehen vor einem Tor, das weit offen steht für den nächsten Schritt, die Entschlüsselung der Funktionsweise der menschlichen
Gene."
Kritik an der "vorschnellen Veröffentlichung"
Britische Fachjournalisten kritisierten am Montag auch die "vorschnelle Veröffentlichung" der HGP-Ergebnisse. Ein Arbeitsentwurf sei noch
keine fertige Analyse, sagten sie. Dexter bestritt jedoch, dass die Veröffentlichung so früh erfolgt sei, weil die HGP-Forscher Angst gehabt
hätten, von Venter abgehängt zu werden. Die Ergebnisse seien so wichtig, dass es unverantwortlich gewesen wäre, sie weiter zurückzuhalten,
sagte Dexter.
Jetzt könne sich jeder Besitzer eines Computers mit Internetzugang das gesamte Material zugänglich machen und eigene Forschungen
beginnen. Dies sei die Grundlage für eine "Revolution in der medizinischen Diagnose und Behandlung".
Bisher haben Gentherapien allerdings noch kaum Erfolg gehabt, sondern in mehreren Fällen zum Tod des Patienten geführt. Viele
Wissenschaftler warnen deshalb vor übertriebenem Optimismus. Denn mit der Lokalisierung eines Gens hat man noch keine Möglichkeit der
Diagnose oder gar Behandlung gefunden. Nur wenige Krankheiten beruhen zudem auf dem Defekt eines einzigen Gens. Die häufigsten
Krankheiten wie Bluthochdruck, Herzleiden, Schlaganfall, Diabetes oder Krebs haben viele Ursachen. Dabei geht es meist um eine
Wechselwirkung von Umwelteinflüssen und persönlicher Lebensführung mit zahlreichen verschiedenen Genen.
Katholische Kirche begrüßt Entschlüsselung des menschlichen Erbguts
Die weitgehende Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes ist von führenden Persönlichkeiten der Katholischen Kirche
begrüßt worden. Gleichzeitig wurde aber davor gewarnt, diese Erkenntnisse für Eugenik oder andere der Menschenwürde widersprechende
Zwecke zu missbrauchen. Der Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini sagte am Dienstag bei einem Kongress im italienischen Aquila, die
Forschungsergebnisse legten "Zeugnis ab vom Reichtum des menschlichen Lebens". Dennoch bleibe der Mensch ein Geheimnis, das man nie
ganz werde entschlüsseln können.
Der vatikanische Bioethik-Experte Bischof Elio Sgreccia wertete die Forschungserfolge als herausragende Errungenschaft, vergleichbar mit
der Entdeckung eines Kontinents oder einem ersten Weltraumflug. Er hoffe, dass die neuen Erkenntnisse die Bestimmung und Behandlung
von Erbkrankheiten erleichterten oder zu einer Früherkennung von Tumoren führten, sagte er am Dienstag gegenüber Radio Vatikan.
Zugleich warnte er davor, die Forschungsergebnisse für eine Eugenik - eine Selektion gesunder von kranken Individuen - zu nutzen oder eine
Art Wert-Skala des menschlichen Lebens auf Grund genetischer Charakteristika zu erstellen. Es komme jetzt darauf an, nicht nur die
Privatsphäre der Menschen zu schützen sondern auch die Anwendung der neuen Erkenntnisse. Dazu seien Gesetze notwendig, die die
Anwendung der Forschungsergebnisse regelten, so Sgreccia. (APA)