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Wie verriegelt man die Justiz? Das ist eine Frage, die den französischen Staatspräsidenten mit zunehmender Dringlichkeit zu beschäftigen scheint.

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Staatsoberhaupt zu sein, birgt in Frankreich gewisse Vorteile. Unter anderem genießt man im Elysée-Palast eine fast unbeschränkte Amtsimmunität: Außer wenn er Hochverrat begeht, riskiert ein fehlbarer Präsident bei Amtsvergehen nichts. Auch seine "Jugendsünden" bleiben während der Amtszeit ausgespart. Das ändert sich erst, wenn der Präsident nicht mehr gewählter Volksvertreter ist und zu einem einfachen Bürger wird.

Diesen Moment fürchtet Jacques Chirac wie das Reh das Weidmannsheil der Jäger: Sobald sich die Tore des Elysée-Palastes hinter ihm geschlossen haben, öffnen die Ermittlungsrichter die Schubladen und ziehen ein paar schwere Dossiers hervor, auf denen nur ein Name steht: Jacques Chirac. Mehrere Korruptions- und Veruntreuungsaffären warten aus den Neunzigerjahren, als der heute 73-jährige Gaullist noch Bürgermeister von Paris war und dort seine Wiederwahl auf alle möglichen (und unmöglichen) Arten sicherstellte.

Oder zumindest unerlaubte Arten: Diese Woche begann in Paris ein Gerichtsprozess wegen Fälschung von Wahlregistern durch frühere Chirac-Vertraute, den so genannten Dominati-Clan. Laut der Anklage waren im dritten Bezirk der französischen Hauptstadt 300 Wähler eingetragen, ohne dass sie dort wohnten. Hauptziel der Operation war es offenbar, dem Oberbürgermeister einen Wahltriumph in allen 20 Pariser Arrondissements zu ermöglichen. "Der eigentliche Verantwortliche ist Jacques Chirac", meint etwa Gérard Merle, von der Ex-Gaullistenpartei RPR, die heute UMP heißt. Chirac habe der RPR-Sektion im dritten Bezirk persönlich den Auftrag erteilt, "Leute zu machen". Das heißt, RPR-Wähler züchten, so wie andere Pflanzen ziehen.

Chirac ist gegen all diese Prozesse immun. Und nicht nur das. Sein Amt räumt ihm einen weiteren Vorteil ein: die Ernennung der höchsten Richter im Land sowie jener Staatsanwälte, die 2007 entscheiden müssen, ob die Dossiers mit dem Vermerk J. C. geöffnet werden sollen. Vor zwei Jahren hatte die von Chirac geleitete Regierung in der Person von Jean-Claude Marin bereits einen neuen Staatsanwalt der Republik für den Gerichtskreis Paris ernannt. Wie diese Woche bekannt wurde, gedenkt er auch den strategischen Posten des Berufungsgerichtes mit einem eigenen Mann zu besetzen: zum dortigen Staatsanwalt soll Laurent Le Mesle werden, der in der Vergangenheit Rechtsberater des Präsidenten war.

Ein Chirac-Getreuer müsste also letztinstanzlich über eine Anklageerhebung gegen den abgetretenen Präsidenten entscheiden. Medien wie der Nouvel Observateur kritisieren, dass Chirac "die Justiz verriegeln" wolle, und Sozialistenchef François Hollande rügt, der Präsident wolle sich selbst "schützen". Allzu laut ist diese Kritik aber nicht; denn Rechtspolitiker erinnern Hollande gerne an ähnliche Ernennungspraktiken unter der Mitterrand-Ära.

Die Einflussnahme auf die Justiz hat in Paris Tradition. Anders als im Italien des Silvio Berlusconi können die Pariser Politiker nicht einfach das Gesetz ändern, wenn sie sich unliebsamer Ermittlungen entledigen wollen. Umso verbreiteter ist die Unsitte "politischer" Ernennungen. Sie fallen besonders leicht - und sind besonders wirksam.

Und falls die Ernennung Le Mesles doch nicht so leicht über die Bühne geht? Dann müsse der angeschlagene Staatspräsident, wie "tout Paris" spöttelt, gar noch ein drittes Mal zur Wahl antreten. Nicht einmal das böte eine Garantie: Derzeit, so scheint es, würden die Citoyens, die schon einmal einen König auf das Schafott geschickt hatten, ihren Präsidenten lieber auf der Anklagebank als nochmals fünf Jahre im Elysée sehen. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, Print, 14.9.2006)