Ohne Frage, diese Frau ist beeindruckend. Was hat sich nicht jeder ausgemalt, als vor zwei Wochen die Nachricht von ihrer geglückten Flucht kam. Wie wird sie aussehen? Kann sie sich überhaupt artikulieren? Haben sie die achteinhalb Jahre Gefangenschaft psychisch völlig zerstört?

Jetzt, nach den ersten Interviews von Natascha Kampusch ist der Laie fast fassungslos. Ein völlig "normal" aussehender Teenager, der konzentriert, wenn auch verschnupft, spricht. Eine 18-jährige Frau, die sich gewählter ausdrücken kann als der Großteil der Persönlichkeiten des so genannten öffentlichen Lebens, die sich gemeinhin auf dem TV-Schirm tummeln. Eine Frau, die mehr vom Leben weiß als die meisten Altersgenossinnen.

Fragen

Und doch, nach den ersten Minuten voll bewunderndem Respekt Kampusch gegenüber, drängen die nächsten Fragen ins Bewusstsein. Ist sie wirklich so stark, wie sie sich präsentiert? Ist sie dem garantiert weiter anhaltenden Medieninteresse – besser, dem Medienhype – wirklich gewachsen? Wird sie jetzt, wo sie ihr Gesicht gezeigt hat, wirklich je wieder jemand anderes sein können als die „arme kleine Natascha, die der Psychopath im Garagenkeller eingesperrt hat"?

Beantworten kann zumindest die letzte Frage niemand. Weder Natascha Kampusch, noch ihre Ärzte und Berater, und ganz sicher nicht die Medien. Bei den ersten beiden Punkten sieht die Zukunftsprognose wohl besser aus: mit der richtigen Begleitung hat die junge Frau durchaus Chancen, den Druck der Öffentlichkeit zu ertragen. Und vielleicht die Zeit, die sie in der Gewalt ihres Entführers verbringen musste, zu verarbeiten.

Welle des Mitgefühls

Gefahr könnte von anderer Seite drohen: Wenn die öffentliche Meinung umschlägt. Jetzt, im Banne von Covern, auf denen Kampusch entrückt in eine bessere Zukunft schaut und die Dinge nach ihren Spielregeln schildern kann, wird sich die Welle des Mitgefühls auftürmen. Doch die kann leicht brechen. Denn Natascha Kampusch ist vor allem ein Mensch. Und als solcher voll Schwächen. Und wer heute noch gerührt in einen Kampusch-Hilfsfonds spendet, um dem Teenager eine Ausbildung zu ermöglichen, zittert morgen womöglich vor Ärger, weil Kampusch mit dem Geld nicht das macht, was man sich selbst von ihr erwartet hat.

Dabei hat es die Kronen Zeitung ja versprochen. "Nicht nur eine glaubwürdige Interview-Serie", garantiert die nämlich, sondern sie "trägt auch mit Sorge für eine adäquate Ausbildung und einen Arbeitsplatz", stand in der Mittwochausgabe noch zu lesen. Das der Arbeitsplatz nur für ein Jahr garantiert ist, fehlt, nebenbei bemerkt. Aber natürlich ist bei dieser Vorgehensweise keine Spur von dem "außerordentlich unangenehmen, so genannten Scheckbuchjournalismus" zu finden, den die Krone im selben Artikel beklagt.

Geht es noch scheinheiliger? Natürlich ist es das legitime Recht von Frau Kampusch, möglichst viel Geld mit ihrer Geschichte zu machen. Natürlich ist es legitim, die Summen nicht zu nennen, um keine Neid zu provozieren.

Aber Kampuschs Geschichte ist natürlich primär Ware. Eine Geschichte, die die Menschen sehen, hören und lesen wollen. Und die auch den Medien viel Geld bringt. Was ja wohl der Grund ist, warum die Krone gleich fünf Teile aus dem Interview macht. Und warum das Interview zwar mit der Feststellung beginnt, dass Kampusch darauf Wert legt, "nicht auf ihren Vornamen Natascha verkürzt zu werden" – auf den beiden Seiten davor in einer rührseligen Schilderung aber gezählte 13 Mal dieser Vorname alleine zu lesen ist.

Wer hofft, die Ware Geschichte sei die wahre Geschichte, wurde und wird entäuscht. Denn die kennt nur Natascha Kampusch – und wird sie wahrscheinlich nie erzählen, zumindest nicht der Öffentlichkeit. Denn sie ist eine beeindruckende Frau. (DER STANDARD, Printausdgabe, 7.9.2006)