Der Aufsehen erregende Fall des Wiederauftauchens des vor acht Jahren entführten Kindes als junge Frau ging durch die Weltpresse. Der etablierte heimi-sche Boulevard und seine demnächst erscheinende großsprecherische Konkurrenz schäumen, weil ihnen ihre Exklusivinterviews vorenthalten wurden. Der Fall hat aber auch auf einer anderen Bühne zu einem unfreiwilligen Offenbarungseid geführt.

Die Rede ist von all jenen Damen und Herren Experten, die von der ersten Stunde an mit Ferndiagnosen zur Stelle waren.

Würde sich Österreichs in einem Pariser Vorort residierender Dichterfürst Peter Handke um derartige Petitessen kümmern, hätte er genug abstoßende Fälle von Fernfuchtlerei zur Hand. Die beeideten Gerichtspsychiater, Polizeipsychologen, Psychoanalytiker und all die anderen Deuter konnten nicht an sich halten und kommentierten bar jeder Anamnese – so nennen die Angehörigen diese Berufe die Feststellung der basalen Fakten eines Falles – den in jederlei Hinsicht außergewöhnlichen Fall von lang andauernder Entführung und privat vollstreckter Isolationshaft.

Es mag sein, dass einige der allesamt reichlich mit akademischen Titeln versehenen Fernfuchtler nicht von sich aus die Öffentlichkeit suchten, sondern auf Fragen selbst rat- und fassungsloser Journalisten nur freundlich reagierten. Ihre Erklärungen waren und sind dennoch nur peinlich. Da war schnell vom Stockholm-Syndrom die Rede, die Psychoanalytikerin steuerte die Identifikation mit dem Aggressor bei, ein Trauma sahen alle als natürlich gegeben an und auf der Suche nach Vergleichsfällen fielen dann auch Namen wie Patty Hearst.

Bloß zur Erinnerung: Das Stockholm-Syndrom kam zu seinem Namen, als in den Siebzigerjahren deutsche Terroristen der Marke Baader-Meinhof vulgo RAF in der schwedischen Hauptstadt Geiseln nahmen, um inhaftierte Genossen freizupressen. Nach einigen Tagen war die Sache ausgestanden, aber zur Verwunderung mancher Beobachter äußerten einige befreite Geiseln danach Verständnis für die Forderungen ihrer Entführer. Ähnlich, aber ein wenig mehr Zeit benötigend verlief der Fall der von US-Anarcho-Terroristen entführten Milliardenerbin Hearst, die obwohl sie die Milliarden nicht wirklich besaß, am Ende einer mehrwöchigen Entführung gleichsam gehirngewaschen die Öffentlichkeit mit Sympathieerklärungen für die antikapitalistische Sache ihrer Kidnapper erstaunte. Was das alles mit der acht Jahre in einem Verließ eingesperrten jungen Wienerin zu tun haben soll, wissen wohl nicht einmal die, die sich dieser Schlagworte bedienten.

Nicht sehr viel besser steht es um den Erklärungswert der Identifikation mit dem Aggressor, einer Idee, die in den 1930er-Jahren Anna Freud in die Welt setzte, als sie bestimmte Beziehungspersonen in der für Psychoanalytiker so charakteristischen Überdehnung von Metaphern als Aggressoren bezeichnete, mit denen sich die hilflosen Heranwachsenden nolens volens identifizieren (müssen). Der einfallsreiche Bruno Bettelheim, dessen psychoanalytische (Aus-)Bildung nur jene eines Klienten war, machte sich diese Idee zueigen, als er seine KZ-Haft in Dachau und Buchenwald zu verstehen versuchte. Ihm ging es damals darum, das ihm unverständliche Verhalten der langjährigen KZler zu deuten, und er griff tief in die Vorurteilskiste Freudoider Bildungsbürger und beschuldigte (anders kann man das nicht nennen) seine Haftgenossen, die SS zu imitieren. Seine Belege hielten einer Überprüfung nicht stand, das tat seinem Erfolg in den USA aber keinen Abbruch.

Lob für die Arbeit der Polizei

Vergleichsweise zurückhaltend urteilten jene Experten, die sich damit begnügten, von einem Trauma zu sprechen, an dem die junge Frau wohl leiden müsse. Dass das nicht mehr als ein neuer Name für das ist, was man eh schon weiß – nämlich Angst und Furcht auslösende Lebenserfahrungen gemacht zu haben, für die man keine Deutungen zur Hand hat – taugt als Erklärung dessen, was an Unerklärlichem uns in den letzten Tagen entgegentrat, dennoch nicht. Richtigerweise wiesen einige Deuter darauf hin, dass es kaum vergleichbare Fälle gäbe. Nach dem wenigen, was die Polizei bislang preis gab (nebenbei: Die Polizei und die anderen Behörden verdienen ein dickes Lob für ihr Vorgehen in diesem Fall!), kann man den Fall der nach acht Jahren aus dem Nichts wieder Aufgetauchten am ehesten als einen "Kaspar Hauser des Medienzeitalters" bezeichnen. Der legendenumwobene, nicht nur Handke als Material dienende Kaspar Hauser soll als kleines Kind in der Wildnis ausgesetzt worden sein, woher er als Jüngling zurückkehrte. Das nun wieder aufgetauchte zur Frau gewordene Kind soll während ihrer achtjährigen Isolation als einziges Tor zur Welt fernsehen gedurft zu haben. Während Kaspar Hausers Wildnis die menschenleere Natur war (und er deshalb als stark sprachbehindert dargestellt zu werden pflegte), scheint die junge Frau einiges aus dem TV mitbekommen zu haben – jedenfalls würde ich ihre Hinweise darauf, dass ihr zumindest "Rauchen, Trinken und schlechte Freunde" erspart blieben, so interpretieren.

Die mit akademischen Titeln wohl versorgten Fernfuchtler – und alle anderen, die der jungen Frau wirklich helfen wollen – sollten ihre Ferndiagnosen in Zaum halten und sich lieber den Kopf zerbrechen, welche Zukunft dieser jungen Frau offen steht. Als jemand, der keine formelle Schulbildung hat, stehen ihre Chancen – nach dem hoffentlich bald eintretenden Abklingen des öffentlichen Interesses an ihr – denkbar schlecht. Ihr dieser Tage veröffentlichter Brief an die "sehr geehrten Journalisten, Reporter … und die Weltöffentlichkeit" demonstriert allerdings eine intellektuelle und moralische Ernsthaftigkeit, wie man sie bei Gleichaltrigen, die formal die Hochschulreife besitzen, gelegentlich schmerzlich vermisst. Ihr diesen Weg zu öffnen (falls sie es denn wünscht) wäre eine noble Aufgabe für all die Dr. Fernfuchtler. Realistischweise ist allerdings anzunehmen, dass sie in ein paar Wochen bereits wieder irgendeinen anderen spektakulären Fall auf die Schnelle dem Publikum erklären werden. Ich lasse mich aber gerne eines besseren belehren. (Christian Fleck, DER STANDARD - Printausgabe, 1. September 2006)