Zur Person
Der Wiener Spitzenökonom Karl Aiginger (Jahrgang 1948) leitet seit Anfang März 2005 das Österreichische Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo). Er unterrichtete unter anderem an der Stanford University oder am Massachusetts Institute of Technology in Boston (USA).

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Die Fragen stellte Michael Bachner.

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STANDARD: Wenn wir uns an den Fall von Semperit Traiskirchen erinnern, sind ja bisher vor allem die arbeits-, also lohnintensiven Produktionen in den Osten abgewandert. Besteht nicht die Gefahr, dass demnächst auch die Know-how-intensiveren Bereiche, wie Forschungsabteilungen von Firmen, folgen?

Aiginger: Ich verbinde die Osterweiterung überhaupt nicht mit Abwanderung, sondern mit Wachstumsimpulsen für Österreich. Durch die Ostöffnung hat sich die Handelsbilanz Österreichs gebessert, sie ist nun ausgeglichen, und ein wichtiger Teil dafür waren die neuen EU-Mitgliedsländer. Aber dieser Prozess geht nicht linear vor sich. Es gibt Branchen, die verlieren, das sind die arbeitsintensiven, auch Teile der Maschinen- und der Elektroindustrie, aber gleichzeitig wachsen andere, wie man sagt skill-intensive Branchen stärker und Österreich wird mehr und mehr eine Drehscheibe, ein Headquarter für die Produktion in Mitteleuropa.

STANDARD: Sie haben den Begriff Abwanderung aber schnell vom Tisch gewischt.

Aiginger: Ich unterscheide zwischen der nahen und der fernen Globalisierung. Durch die nahe, die für uns relevant ist, sind wir jetzt in der Nähe des am schnellsten wachsenden Marktes in Europa. Osteuropa wächst mit vier Prozent doppelt so schnell wie Westeuropa. Dazu kommt der kostengünstige Export in dritte Länder, durch die günstigeren Zulieferungen aus dem Osten. Das Negative ist freilich der Verdrängungswettbewerb, den sie ansprechen. Dadurch ergibt sich aber primitiv gerechnet ein Vorteil von zwei zu eins für uns.

STANDARD: Das erinnert an eine Umfrage unter 1300 Managern, bei der kürzlich sogar herauskam, dass für jeden Job der zwischen 2000 und 2005 in ein Niedriglohnland abgewandert ist, im Durchschnitt 2,5 neue Jobs in Österreich geschaffen worden wären. Ist das haltbar? Da hätten wir doch längst Vollbeschäftigung.

Aiginger: Ich glaube, das ist ein Signal, das hier gegeben werden soll, dass der sichtbare Effekt der Abwanderung durch einen unsichtbaren Effekt der größeren Wertschöpfung in Österreich überkompensiert wird. Ob es 2,5 Arbeitsplätze sind oder 1,2, das möchte ich nicht so nachvollziehen. Das ist auch von Branche zu Branche und von Land zu Land sehr verschieden.

STANDARD: Aber ein positiver Saldo kommt für Sie heraus?

Aiginger: Ja, denn eines ist klar: Österreichische Firmen sind nunmehr in jener Funktion, die sie in einem reichen Land haben sollten. Wir haben also mehr Direktinvestitionen im Ausland als umgekehrt in Österreich. Die Funktion der Unternehmenszentralen, deren Mangel wir jahrzehntelang beklagt haben, ist jetzt durch die Osterweiterung zugunsten Österreichs entschieden worden. Und der Markt des erweiterten Europas wächst gleich schnell wie Amerika, ein vielfach unerkanntes Phänomen.

STANDARD: Warum wächst Österreichs Volkswirtschaft dann nicht auch mit Raten von drei, vier Prozent? Dann würden sich viele Probleme vom Budget bis zum Arbeitsmarkt wahrscheinlich wie von selbst lösen lassen.

Aiginger: Die spezifische Position Österreichs ist, dass es in der Mitte und an der Wohlstandskante liegt. Sicher ergibt das die Chance schneller als Westeuropa zu wachsen. Aber wir haben eben auf der anderen Seite auch die Bleilast Deutschlands, Italiens und der Schweiz. Österreichs Wirtschaftspolitik hat in dieser Situation ungeheure Chancen, Möglichkeiten, aber auch sehr viel Verantwortung. Wir können aus dieser Situation das Beste, aber auch das Schlechteste machen.

STANDARD: Was heißt das Schlechteste? Fürchten Sie doch einen neuen Abwanderungsschub? Gedroht wird ja in Permanenz, dass man hier dicht macht und sich der Karawane in den Osten anschließt.

Aiginger: Es kommt ein Veränderungsschub. In dieser Position Österreichs, wie beschrieben in der Mitte, man hat hohe Einkommen, aber 200 Kilometer östlich sehr niedrige Einkommen, ergibt sich ein großer Veränderungsbedarf. Wer immer das selbe macht, wie vor zehn Jahren, verliert sein Unternehmen, seinen Arbeitsplatz. Wer die Chancen nützt, gehört zu den Gewinnern. Das ist das Problem der Globalisierung in der unterschiedlichen Betrachtung der Ökonomen und der Bevölkerung. Die Ökonomie legt wert darauf, dass reiche Länder Nettogewinner der Globalisierung sind und die Bevölkerung sagt, dass wir Nettoverlierer sind – vom Gefühl her.

STANDARD: Statistiken versus gesunden Hausverstand?

Aiginger: Dieses Gefühl der Bevölkerung ist unterlegt mit persönlichen Erfahrungen, wobei die negativen immer stärker gewichtet werden und den Außenkräften, den Rahmenbedingungen zugeschoben werden. Die positiven Erfahrungen werden immer den Eigenkräften zugerechnet. Der erfolgreiche Unternehmer ist nicht erfolgreich, weil die Globalisierung stattfindet, sondern weil er sein Unternehmen richtig platziert hat. Der Erfolglose kann sich bei einer negativen Bilanz vor der Presse rechtfertigen, es sei die Globalisierung schuld gewesen.

STANDARD: Also nur eine Ausrede für eigene Versäumnisse?

Aiginger: Es ist eine Ausrede. Der Gewinner der Globalisierung ist leise, die Gewinne sind verteilt, die Verlierer sind laut, die Verluste geballt.

STANDARD: Aber sollen die Verlierer schweigen? Der Generaldirektor der Erste Bank, Andreas Treichl sagt, die Produktionen würden zwar teilweise abwandern, aber auch im Osten steige der Wohlstand. Slowaken und Ungarn kommen als Touristen und somit steigt auch unser Wohlstand wieder. Verkommen wir da nicht á la long zum Alpenzoo?

Aiginger: Es wird sicher eine Verschiebung zu den Dienstleistungen geben und die touristischen sind ein Teil davon. Aber die richtig reichen Länder profitieren von den hochwertigen Dienstleistungen, von den Unternehmenszentralen, von den Beratungs-, Logistik- und Telekomfirmen. Und da hat Österreich natürlich die besten Chancen. Das ist eine Gestaltungsaufgabe. Aber es sind die angenehmsten Jobs und die bestbezahlten. Anderen mit Rat und Tat zur Seite stehen und sich dabei nicht schmutzig machen. (Michael Bachner, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5./6.8.2006)