Dreimal pro Woche eine Stadtgeschichte von Thomas Rottenberg

Auch als Buch: Die besten Stadtgeschichten aus dem Stadtgeschichten-Archiv - zum Wiederlesen & Weiterschenken. "Wiener Stadtgeschichten" mit Illustrationen von Andrea Satrapa-Binder, Echomedia Verlag Ges.m.b.H., ISBN 3-901761-29-2, 14,90 Euro.

Es war heute Nacht. Und eigentlich war es ja eh ok. Schließlich kann man von niemandem verlangen, bei sommerlich schwülen Temperaturen bei geschlossenen Fenstern zu schlafen. Und dass Menschen Sex haben, ist auch gut. Aber sechs Stunden "Jaaa, jaaa, gib es mir!"-Gekreische kann dann doch ein wenig enervieren. Aber vermutlich spricht aus mir nur der Neid.

Schließlich habe ich "ist da vielleicht wer neidig?" in meiner ehemaligen Wohnung damals eigenhändig auf jenes Blatt Papier geschrieben, das ein Nachbar ans Schwarze Brett geschlagen hatte: Er wisse, dass Sex fein sei, war da gestanden, aber eingedenk der akustischen Gegebenheiten des Hofes möge man doch bitte so gemein und egoistisch sein, den Nachbarn das libidinöse Hörspiel nicht zu gönnen. Meine Wohnung hatte – damals – kein Hoffenster. Und natürlich verewigte ich mich (so wie ein paar andere Nachbarn auch) auf dem doch eigentlich höflich gehaltenen Blatt.

Verwinkelt

Mittlerweile mündet mein Schlafzimmer aber in einen Lichthof. Fieserweise in einen verwinkelten engen, den sich drei Häuser teilen. Die Winkelei hat Vorteile: Ich kann mir selbst vom Badezimmer ins Schlaf- und ins Vorzimmer schauen – aber sonst bin ich vor Blicken geschützt. Natürlich gilt das auch umgekehrt: Ich habe keine Ahnung, wie die anderen Menschen und Zimmer aussehen, die Licht & Luft ebenfalls aus dem kleinen Hof beziehen.

Aber Schall geht ums Eck. Dass der Kindergarten im Nachbarhaus um sieben Uhr früh aufsperrt, aber da noch nicht all zu viele Kinder da sind, weiß ich deshalb. Weil der Aufenthaltsraum der Kindergärtnerinnen in den Hof geht: Um Punkt sieben werde ich vom fröhlich-halbverschlafenen Geplauder von Erzieherinnen geweckt, die auf die ersten Kids warten. Manchmal riecht es nach Kaffee.

Ballerspiele

Später, tagsüber, tönt dann Maschinengewehrfeuer aus der Tiefe. Manchmal brüllt wer „Achtung, Granate“ – und meistens klimpert ein Klavier dazu: Die Buben meiner Nachbarin im Erdgeschoß haben ihr Heim zur sommerlichen Netzwerk-Ballerspielzone ihres Freundeskreises erklärt ­ und S., der Musicalregisseur unter mir (dem ich theoretisch und als einzigem ins Schlafzimmer schauen könnte), probt für sein nächstes Stück. Eine ausgewogene und insgesamt stimmige Geräuschkulisse also.

Seit es heiß ist, gehört da auch serbische Schlagermusik dazu. Leider in ohrenbetäubender Lautstärke – und fallweise mit begleitendem Livegesang. Manchmal am frühen Nachmittag, meistens ab zwei Uhr morgens. Vor ein paar Tagen bin ich dann (tagsüber und mit einem schlechten Gewissen) im Nachbarstiegenhaus dem Lärm gefolgt und habe einen einsamen älteren Mann aus seiner Wohnung geläutet; Er möge doch wenigstens in der Nacht leiser zu hören. Ich kam mir echt spießig vor – aber meinem Hör-Nachbar war die Sache noch unangenehmer als mir: Er sei Schichtarbeiter und vergesse nach der Arbeit oft, dass andere schliefen. Und weil er bei großem Lärm arbeite, schliefe er eben auch bei der lautesten Musik ein.

Krautdämpfe

Seither war die Welt wieder in Ordnung. Einmal abgesehen von dem oder der Irren, der/die einmal pro Woche um fünf Uhr früh beginnt, Berge von Kraut zu zerkochen: Der intensive Geruch von warmem Kraut, der sich ab halb sechs in die Träume schleicht, ist nicht jedermanns Sache. Das selbe gilt für die gelegentlichen Knoblauch- und Grillkotelettedämpfe vor dem Aufwachen,­ aber egal.

Letzte Nacht wurde dann aber geliebt. Ab ein Uhr früh. Anfangs lächelten wir noch zu dem sich schnell zum exstatischen Crescendo steigernden weiblichen „Jaaaa! Jaaa! Jaaaa!“-Furioso, das aus der Dunkelheit kam. Aber nach dem dritten halb gebrülltem, halb geschluchzten finalem „Oh! Mein! Goooooooooooott!“ begann die Sache mühsam zu werden. Doch die Hoffnung, dass nun endlich Ruhe einkehren würde, war immer nur von kurzer Dauer. Nie länger als zwei Zigaretten. Dann kam stets ein kleiner, gekicherter Kreischer, dem ein gekeuchtes „Aaah, schon wieder? Nocheinmal? Ja, nocheinmal! Waaahnnsinn!“ folgte ­ und dann hatte meine unbekannte Nachbarin wieder eine Menge Spaß.

Orgasmuskurven

Den hörte man im Übrigen auch bei geschlossenem Fenster in der sich da binnen Sekunden bildenden Schlafzimmerdampfkammer. Um zwei Uhr machte A. noch blöde Witze über das Stehvermögen mancher Männer. Kurz nach zwei wussten wir dann schon präzise, wie lange die Unbekannte bis zu ihrem nächsten Orgasmus brauchen würde. Um halb drei hätte ich mir zugetraut, der jeweiligen akustischen Version ihres Kommens Stellungen zuzuordnen (nein: nicht die Position an sich, aber „Aaaaaaaah!“, „oooooooooooooooh!“ oder „Himmel-bist-du-guuuuuut!“ dürften situationsbezogen gewesen sein.) Gegen vier Uhr waren wir vom bloßen Zuhören wund. Gegen fünf Uhr schlief ich ein – und träumte von Alarmanlagen und Heulbojen auf stürmischem Meer.

Heute morgen waren wir wie erschossen. Im Hof trafen wir zufällig den Regisseur und die Mutter der Ballerspielbuben. Wir alle sahen gezeichnet, übernachtig und gerädert aus. Aber in einem anderen Eck unseres Lichthofes dürfte jemand mit einem ziemlich seligen Lächeln eingeschlafen sein.