"Es gibt Schätzungen, dass 40 Prozent aller radiologischen Aufnahmen nicht wirklich gemacht werden müssten." Claudia Wild

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"Der technische Fortschritt in meinem Fach ist enorm. Wir stehen am Beginn eines neuen Zeitalters bildgebender Verfahren." Herwig Imhof

Helfen bildgebende Verfahren, früher Diagnosen zu erstellen, oder sind sie bloß Kostenverursacher? Klaus Taschwer bat den Radiologen Herwig Imhof und Claudia Wild, Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Health Technology, zum Gespräch.

STANDARD: Frau Dr. Wild, wie schätzen Sie als Expertin für die Bewertung medizinischer Technologien die Situation der Radiologie in Österreich ein?

Wild: Faktum ist, dass Österreich zu den führenden Ländern Europas gehört, was die Ausstattung mit radiologischen Großgeräten wie Magnetresonanz- und Computertomografen betrifft. Man weiß aber nicht wirklich, ob diese hohe Geräte- und Radiologendichte auch zu besseren Diagnosen führt und sich bei bestimmten Erkrankungen in niedrigeren Sterberaten niederschlägt. Dafür müsste man erst evidenzbasierte, das heißt auf statistischen Zahlen beruhende Studien durchführen, die Diagnose- und Behandlungserfolge kritisch evaluieren. Solche Untersuchungen gibt es aber nicht.

STANDARD: Warum nicht?

Imhof: Dazu muss man sagen, dass dieser Ansatz der Evidence-Based-Medicine auch international erst sehr jung ist. Wir halten das für eine wichtige Ergänzung, auch wenn es sicher nicht die allein selig machende Methode ist. Es ist aber abzusehen, dass dieser Ansatz nicht nur in unserem Fach, sondern ganz allgemein in der Medizin noch an Bedeutung gewinnen wird.

Wild: Wobei man fairerweise ergänzen muss, dass Evidence-Based-Medicine in diagnostischen Bereichen wie der Radiologie sich schwieriger anwenden lässt als im therapeutischen Bereich. Da ist etwa die Kosten-Nutzen-Relation von bestimmten Medikamenten relativ einfach zu eruieren. Dennoch gibt es internationale Schätzungen, dass 40 Prozent aller radiologischen Aufnahmen nicht wirklich gemacht werden müssten, weil die Fragestellung dafür nicht stimmt. Das wäre allein bei niedergelassenen Röntgenfachärzten in Österreich ein Einsparungspotenzial von 70 Millionen Euro.

Imhof: Diesen Wert von 40 Prozent kann ich nicht bestätigen, weil mir diese Daten im Detail nicht zugänglich sind. Davon abgesehen kursieren hauptsächlich Daten aus Deutschland, die sich auf Österreich nicht übertragen lassen, da es hier in der Radiologie keine Selbstzuweisung gibt. Für Österreich würde ich den Prozentsatz wenig sinnhafter Zuweisungen wesentlich geringer ansetzen. Es ist aber auch für mich offensichtlich, dass es hier ein Einsparungspotenzial gibt. Es gibt da allerdings ein strukturelles Problem: Wenn Sie als niedergelassener Röntgenfacharzt zum zuweisenden Arzt sagen, dass diese oder jene Zuweisung von ihm nicht angebracht war, dann kann es passieren, dass Sie von dem in Zukunft überhaupt keine Zuweisungen mehr erhalten werden.

STANDARD: Was machen Sie als Präsident der Österreichischen Röntgengesellschaft gegen solche Fehlzuweisungen?

Imhof: Wir versuchen bereits seit einigen Jahren, die zuweisenden Ärzte besser zu schulen und zu informieren. Das passiert, indem wir Leitlinien für Zuweisungen herausgeben, die mittlerweile in der dritten Auflage vorliegen. Wir treffen aber auch regelmäßig in allen Bundesländern mit Ärzten zusammen, um diese Leitlinien zu vermitteln.

Wild: Das Problem dieser Leitlinien ist nur, dass sie von Interessenvertretern der niedergelassen Ärzte miterstellt wurden. Das ist ein bisschen so, wie wenn die Zuckerindustrie Richtlinien für den Zuckerverbrauch entwickeln würde. Ich plädiere deshalb dafür, dass diese Leitlinien für Zuweisungen in Zukunft unbedingt von unabhängigen Wissenschaftlern verfasst werden sollten. Außerdem fehlen die Quellen, die für Evidence-Based-Medicine so wichtig sind.

Imhof: Ich bin mir dieser Kritik wohl bewusst, die zum Teil auch berechtigt ist. Aber als ich mein Amt als Präsident der Röntgengesellschaft antrat, war die dritte Auflage schon unterwegs. Man muss aber auch erwähnen, dass die Basis dafür vom Royal College of Radiologists in Großbritannien entwickelt wurde, die evidence-based vorgegangen und völlig unabhängig sind.

STANDARD: Trotz der guten radiologischen Versorgung ist Österreich eines jener Länder, das kein organisiertes Screening zur Brustkrebsfrüherkennung hat. Ist das ein Problem?

Imhof: Es gab viele Stimmen, die das als Problem gesehen haben. Von der Österreichischen Röntgengesellschaft wurde ein alternativer Weg eingeschlagen, nämlich das so genannte "opportunistische Screening". Das bedeutet, dass Patientinnen selbst zum Arzt gehen oder in manchen Regionen auch eingeladen werden. Auch so können hohe Teilnehmerinnenzahlen erreicht werden - in Wien zum Beispiel 67 Prozent. Neue epidemiologische Studien zeigen auch, dass wir dieselbe Sterblichkeitsrate aufweisen wie jene Länder, die ein organisiertes Screening durchführen. Dies zeigt die enorm hohe Effizienz unserer Vorgangsweise.

Wild: Ich bin überrascht, dass auch Sie gegen ein organisiertes Mamma-Screening sind. Dem stimme ich total zu, denn so etwas wäre unglaublich teuer und brächte nicht den entsprechenden Nutzen. Ich möchte allerdings auch auf einen Nachteil des "opportunistischen Screenings"hinweisen: nämlich den, dass vor allem die besser gebildeten Frauen hingehen. Um auch die anderen zu erreichen, sollte man solche Maßnahmen für die weniger privilegierten Frauen gezielter anbieten als bisher.

Imhof: Auch von radiologischer Seite sind wir natürlich um weitere Verbesserungen bemüht, auch wenn das Niveau jetzt schon sehr hoch ist. So möchten wir in Zukunft zu einem "Double-Reading"von Mammografien kommen, also die Zweitbegutachtung einer Mammografie durch einen Kollegen. Das wird aber durch den Gesetzgeber sehr erschwert, der es nahezu verunmöglicht, Ordinationsgemeinschaften einzurichten.

STANDARD: In der Radiologie hat sich in den letzten Jahren technisch sehr viel verändert. Ist das schon kritisch evaluiert?

Imhof: Der technische Fortschritt in meinem Fach ist enorm. Meiner Ansicht nach stehen wir erst am Beginn eines neuen Zeitalters bildgebender Verfahren. Durch Innovationen wird Kritik natürlich schwierig. Es gibt zum Beispiel ein ganz neues CT-Gerät der Firma Siemens. Das ist bereits in den USA zugelassen. Das Gerät zu evaluieren dauert, weil es ja erst einmal einige Jahre laufen muss.

Wild: Es gibt fraglos große technische Fortschritte. Aber die sind nicht gleich bedeutend mit medizinischen Fortschritten. Deshalb ist die permanente Evaluation durch meine Disziplin so wichtig. In einer großen Studie der Firma Roche hieß es, dass Österreich zu den innovationsfreudigsten Ländern gehört. In meine Sprache übersetzt heißt das, dass in Österreich alles Neue kritiklos angeschafft wird.

Imhof: Ich denke, dass die Anschaffung neuer Großgeräte wie Computertomografen besser organisiert sein sollte. In Österreich ist Medizin Landessache, jeder Bürgermeister kann intervenieren, um neue Großgeräte für die jeweiligen Krankenhäuser zu sichern. Es wäre klüger, zunächst zentrale Bereiche wie Universitätskliniken zu versorgen.

STANDARD: In den vergangenen Jahren kam das so genannte Ganzkörperscreening mittels Magnetresonanz- und Computertomografie in Mode. Zahlt sich das aus - zumal man ja selbst dafür bezahlen muss?

Imhof: In den USA ist es mittlerweile üblich, dass man in Shopping-Centers für 100 Dollar solche Screenings machen lassen kann. Das Hauptproblem dabei ist, dass dabei zumeist irgendwelche kleine Herde etwa in der Lunge sichtbar werden, von denen man nicht weiß, ob sie gut- oder bösartig sind. Als Betroffener will man das natürlich wissen. Nur wird die Sache dann kompliziert: Viele aufwändige Prozeduren beginnen, und dann stellt sich bei den meisten heraus, dass gar keine richtige Krankheit vorliegt. Bei den Mammografien ist das eine ganz ähnliche Problematik.

Wild: Das ist erfreulich, dass auch Sie dem Ganzkörper-screening skeptisch gegenüberstehen. Tatsächlich ist der Boom ja schon voll ausgebrochen, und der Markt wird mit entsprechenden Marketingmaßnahmen bereits bearbeitet: In einer deutschen Ärztezeitung fand ich kürzlich den Vorschlag, dass man bei Männern über 45 solche Computertomografien zur Früherkennung von Herzerkrankungen regelmäßig machen lassen sollten. Da stellt sich natürlich die Frage, ob unser Gesundheitssystem in diesem Sinn weiter ausufern soll.

STANDARD: Soll es?

Wild: Entscheidend muss aus meiner Warte sein, dass die Solidargemeinschaft die hoch effektiven Leistungen der Diagnose und der Therapie finanziert und andere - wie das Ganzkörperscreening - draußen lässt. Ich denke, um auf den Beginn zu sprechen zu kommen, dass zum Beispiel bei den überflüssigen radiologischen Zuweisungen noch viel Geld liegt, das man sinnvoll umschichten könnte.

Imhof: In bestimmten Bereichen ist sicher noch Einsparungspotenzial vorhanden. Wir müssen das Problem aber über die bildgebenden Verfahren hinaus betrachten. Schon jetzt ist es möglich, auf genetischer Ebene festzustellen, welche Dispositionen man für welche Krankheiten hat. Angesichts erweiterter Diagnosemöglichkeiten stehen wir vor einem Problem, das man durch mehr Effizienz bei der Mittelvergabe nur hinauszögern kann: nämlich, wo man in Zukunft die Grenzen der Solidargesellschaft festlegt.