Eine Million Arbeitsplätze hängen in der EU am Wein. Der Anbau ist mit 1,5 Milliarden Euro subventioniert. Fast von der Hälfte der EU-Länder, einschließlich Österreich, wird keine Weinsteuer eingehoben. Mit EU-Mitteln ist sogar für die gesundheitsfördernde Wirkung gemäßigten Weinkonsums geworben worden. Wenn es nach der EU ging, so musste man glauben, wurde bislang nicht zu viel, sondern zu wenig getrunken. Neuerdings weht ein anderer Wind aus Brüssel. Markos Kyprianou, der Kommissar für Verbraucherschutz und Gesundheit, hat als Ziel ausgegeben, den Alkoholkonsum in der EU bis 2016 um ein Viertel zu senken.

Dabei pocht der Zypriote auf einen vor zwei Monaten von den beiden englischen Alkoholforschern Peter Anderson und Ben Baumberg vorgelegten Report, der bestürzende Zahlen liefert: 23 Millionen EU-Bürger seien Alkoholiker. Fast 200.000 Todesfälle im Jahr seien unmittelbar auf Alkoholmissbrauch zurückzuführen. Die direkten Kosten der Trunksucht werden mit 125 Milliarden Euro beziffert, was 1,3 Prozent der Wirtschaftsleistung der EU entspricht. Von Aufklärung und Prävention halten Anderson und Baumberg wenig. Sie empfehlen Einschränkungen des Alkoholverkaufs, vor allem aber eine Erhöhung der Steuern.

Bei den nordischen EU-Staaten rennt der Report offene Türen ein. Denn während die Einnahmen aus den Alkoholsteuern zurückgehen, schnellt der Konsum nach oben. Engländer decken sich in Frankreich ein. Schweden tuckern massenhaft über die Ostsee und beladen mit Fusel am gleichen Tag wieder zurück. Auch die Fähren zwischen Helsinki und Tallinn sind voll von Alkoholtouristen. Nun nutzt Finnland seine Ratspräsidentschaft, um die Angleichung der Alkoholsteuern auf die europäische Agenda zu setzen - eine Angleichung auf nordisches Niveau versteht sich.

Ist Alkohol Suchtstoff oder Genussmittel? Zersetzt Alkohol die Gesellschaft, oder ist er ein Teil des sozialen Lebens? Dass diese Fragen in Nordeuropa oder den USA grundsätzlich anders beantwortet werden als in Mittel- und Südeuropa, liegt auch an den Trinksitten. Laut Weltgesundheitsorganisation ist Süd- und Mitteleuropa eine der Regionen mit dem risikoärmsten Trinkmuster. Wer in England oder Nordeuropa anfängt zu trinken, belässt es dagegen oft nicht bei zwei, drei Gläschen, sondern geht bis zum Rausch. Mit den gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen ist es dann nicht getan. Oft kommt Gewalt ins Spiel, oder die Familie wird in Mitleidenschaft gezogen.

Dass Trinken als soziales Problem wahrgenommen wird, hat in den USA, Nordeuropa und Großbritannien schon vor Jahrzehnten, zum Teil direkt aus der Abstinenzbewegung heraus, zur Etablierung der Alkoholforschung geführt. Sie untersucht und bewertet nicht nur die Folgen der Trunksucht, sondern auch Maßnahmen zu ihrer Einschränkung. Gerade was die Alkoholpolitik angeht, gibt es in Mittel- oder Südeuropa bis heute nahezu keine einschlägigen Studien. So stützt sich der Anderson-Baumberg-Report zwar fast ausschließlich auf die Erfahrungen in den nördlichen Ländern, behauptet aber Gültigkeit für ganz Europa. "Ein Großteil der Forderungen sind hier undenkbar", findet Österreichs einziger etablierter Alkoholforscher, Alfred Uhl. Seinen nordischen Kollegen wirft er vor, ideologischen Eifer in Wissenschaftlichkeit zu kleiden. "Bei der Forschung zu illegalen Drogen gibt es eine reaktionäre und eine liberale Schule, in der Alkoholforschung gibt es nur einen Block", hat Uhl festgestellt.

Ihm missfällt, dass der Alkoholkonsum an sich bekämpft werden soll. In Österreich sei der Pro-Kopf-Konsum in den vergangenen dreißig Jahren um ein Viertel gesunken, und das, obwohl die Preise für Bier, Wein und Spirituosen deutlich weniger stiegen, als die Inflation, real um ein Viertel bis die Hälfte gesunken ist. "Bitte verstehen Sie mich nicht falsch", sagt Uhl. "Ich begrüße es, wenn Alkoholismus endlich als Problem ernst genommen wird. Jeder zehnte Österreicher wird in seinem Leben alkoholabhängig. Alkoholiker sterben zwanzig Jahre früher." Aber würden die Preise erhöht, sparten Alkoholiker an der Ernährung oder griffen zu Fusel minderer Qualität. Immer weniger würden durch die leichte Verfügbarkeit zu Alkoholikern, so Uhl.

Der Normalfall sei die so genannte sekundäre Sucht, die Flucht vor Problemen in den Suff. Alkohol wirke als Angstlöser, werde zur Selbstmedikation gebraucht. Meldungen, dass der Alkoholmissbrauch Jugendlicher zunehme, hält Uhl für übertrieben. Wenn Kliniken bis zu zehnmal so viele Minderjährige im Vollrausch registrieren wie noch vor einigen Jahren, gebe es dort sicher einen Arzt, der sich dem blühenden Feld Jugendalkoholismus widme. Ganz Skeptiker, missfällt dem Wiener Suchtforscher aber auch der Schluss, gemäßigter Alkoholkonsum wirke lebensverlängernd. In der Gruppe der mäßigen Trinker seien die Gebildeten und Erfolgreichen überrepräsentiert, und die leben gewöhnlich gesünder. Dagegen seien viele Abstinente durch Krankheit zum Verzicht genötigt. Dass mit EU-Fördergeldern für den angeblich gesunden Weinkonsum geworben wird, dürfte Vergangenheit sein. Bei den zahlreichen EU-Terminen, die bis Ende des Jahres anstehen, wird Wein allerdings seine gewohnte Rolle spielen.

Als gute Gastgeber haben sich die Finnen mit edlen Tropfen aus den Anbauländern der EU eingedeckt. Fürs Treffen der Landwirtschaftsminister sind Weine aus Niederösterreich vorgesehen. Die Briten sind während ihrer Ratspräsidentschaft rabiater vorgegangen. Sie haben ihre Gäste mit Wein aus britischer Erzeugung traktiert - und der war zum Abgewöhnen. (Von Stefan Löffler/DER STANDARD, Printausgabe, 29.7.2006)