Marlene Streeruwitz: "Entfernung."
S. Fischer Verlag, 476 Seiten, ISBN 3-10-074432-2
20,50 Euro
Buchcover
Wien - Die Beschreibung einer Innen- und Außenwelt, die sich auf verstörende Weise im Gleichklang des Chaos befindet, liefert die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz in ihrem neuen Roman "Entfernung.", der ab Freitag erhältlich ist. Im Mittelpunkt steht die arbeitslos gewordene Wiener Festival-Dramaturgin Selma Brechthold, die eine Reise nach London unternimmt. Statt hier das erste Projekt einer neue Karriere zu fixieren, setzt sich nur ihr Scheitern fort. Am Ende einer alptraumhaften Abfolge von Ereignissen gerät sie als U-Bahn-Passagierin mitten in die Londoner Terroranschläge des Vorjahres, denen sie geschockt, aber nur geringfügig verletzt entkommt.

Wrack

Marlene Streeruwitz war selbst zu jener Zeit in London und hat dabei Angst und Schrecken unmittelbar miterlebt. Doch "Entfernung." ist weder ein Erfahrungsbericht darüber noch eine Reflexion über den Terror, sondern ein bis an den Rand des Nervens minutiöses Beschreiben eines Zustand der Auflösung, des Verlusts sämtlicher Sicherheiten und Lebensgrundlagen - von der geistigen Identität und körperlichen Integrität als Frau, von Liebe, Geborgenheit, Partnerschaft und sozialem Netzwerk bis zu beruflicher Bestätigung. Die Endvierzigerin Selma fühlt sich als Wrack. Und Streeruwitz spart nicht mit Einzelheiten.

Objektiviert

Der kurze, abgehackte, atemlose Erzählstil, den die Autorin kultiviert hat, beeindruckt und beeinträchtigt zugleich. Mit seinen Brüchen und Gedankensprüngen gelingt es ihm gut, innere Vorgänge abzubilden, mit immer wieder auftauchenden unmotivierten Umstellungen im Satzbau wirkt er allerdings angestrengt und strengt an. "Entfernung." kann als großer innerer Monolog gelesen werden, als sich ständig fortschreibender Quelltext des Individuums im Daseinskampf, als Gedanken-Kommentar zu einer Kette von Ereignissen, in deren Strudel sich Selma nicht mehr als Subjekt, sondern nur noch als Objekt erlebt: ausgegrenzt, verachtet, unbeachtet.

Komplizin

Ein Sog der Erniedrigung und Verletzung zieht Selma nach unten: Vom Ehemann betrogen, von der Nebenbuhlerin frech vor die Türe gesetzt und vom Chef entlassen - schlimmer kann's nicht werden. In dieser Situation legt die Protagonistin alle Reaktionen der Umwelt gegen sich aus, behält nur mit Mühe die Kontrolle über ihren rebellierenden Körper und lässt sich willenlos in fremde Aktivitäten einbinden. Sie wird zum Spielball, zur Komplizin in Vorgängen, die sie nicht durchschaut und gerät in seltsame Situationen.

Selbstanklage gegen weibliche Wehleidigkeit

Von einem Taxifahrer in einer wildfremden und zwielichtigen Londoner Gegend rausgeworfen, findet sie sich als Besucherin eines eigenartigen, zwischen Trash, Avantgarde und Pornografie wechselnden Untergrund-Films, als Akt-Modell und bei einem Club-Konzert einer Frauen-Band namens "The Singing Tampons" wieder. "Entfernung." ist nicht nur eine schonungslose Anklage gegen gesellschaftliche Verhältnisse, sondern kann auch als eine ebensolche Selbstanklage gegen weibliche Wehleidigkeit gelesen werden. Und natürlich ist das Buch auch eine ironische Darstellung des Kulturbetriebs, mit Frauen-vernaschenden Intendanten und die wahre Arbeit machenden Assistentinnen, einem ständigen Kampf um Kunst und Konzepte, der in Wahrheit einer um Einfluss und Geld ist, und um Festivalmacher, denen zu Mozart wenig anderes einfällt, als ihm am Plakat-Sujet seine Augen zu verdrehen.

Sichtbar Gezeichnete

Die Schilderung des Terrors, den Selma als niedergeworfene und eingekeilte Passagierin in einem U-Bahn-Waggon miterlebt, überrascht dann. Angesichts des Todes funktioniert sie. Die Nerven verlieren andere. Sie entkommt dem Chaos und der Zerstörung, irrt jedoch später als vom Schicksal sichtbar Gezeichnete an der Oberwelt umher. Hier wieder einen festen, zugeordneten Platz zu finden und einzunehmen, ist schwerer vorstellbar denn je. (Von Wolfgang Huber-Lang/APA)