Eine Affäre von der Größenordnung der Bawag wäre in Paris kaum denkbar: Die französischen Gewerkschaften verfügen schlicht nicht über genug Mittel oder Banken, um sich einen solchen Skandal zu leisten. Sie verwalten zwar die Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenkassen vieler Arbeitnehmer, doch diese mit den Arbeitgebern paritätisch ausgeübte Tätigkeit ist streng kontrolliert.

Die einzige nennenswerte Affäre der letzten Jahre betrifft die Betriebskasse des Stromkonzerns Elec-tricité de France (EdF). Sie wird von der bei EdF dominanten Gewerkschaft CGT geleitet und durch ein sattes Umsatzprozent des Konzerns genährt; seit 2004 wird wegen vermuteter Veruntreuung ermittelt, da die CGT vermutlich Geld aus dieser Quelle an die ihr nahe stehende Kommunistische Partei abgezwackt hat. Die Ermittlungen kommen aber nicht voran; in Frankreich schlägt die Affäre ohnehin wenig Wellen, da die EdF-Geschäftsrechnung selbst nicht viel transparenter ist.

Abgesehen davon ringt die CGT wie alle Gewerkschaften täglich um das finanzielle Überleben. Sie hat in den letzten Jahrzehnten zwei Drittel ihrer Mitglieder verloren. Unter den Verbleibenden dürfte ein Fünftel Rentner sein. In den letzten Jahren hat es der amtierende CGT-Chef Bernard Thibault zwar geschafft, den Abwärtstrend der Mitgliederzahlen bei rund 700.000 zu stabilisieren, die versprochene Zahl von einer Million "adhérents"bis 2007 wird er allerdings sicherlich verpassen.

Die Lage der in Frankreich tonangebenden CGT ist symptomatisch für die etablierten Gewerkschaften. Die von der CGT abgespaltene "Force Ouvrière"(FO) brach bei den Sozialstreiks 1995 ein, die gemäßigte CFDT wurde für ihren pragmatischen Kurs bei der Rentenreform 2002 durch zahlreiche Austritte abgestraft. Sie versucht nun verzweifelt - und oft gegen die innere Überzeugung -, mit aufmüpfigen Parolen Mitglieder zu werben und Hardliner zu spielen. So lehnte CFDT-Chef François Chérèque im Frühling den von der Rechtsregierung Villepin lancierten Arbeitsvertrag für Berufseinsteiger (CPE) kategorisch ab, obwohl er früher eigentlich genau einen solchen Einstellungsvertrag verlangt hatte.

Zwar demonstrierten CGT, FO und CFDT - die sonst nicht einmal einen gemeinsamen 1.-Mai-Umzug auf die Beine bringen - im März vereint gegen das Villepin-Projekt; zum Schluss brachten sie es sogar zu Fall. Doch nicht einmal das verschaffte der gebeutelten Gewerkschaftsbewegung Auftrieb: Umfragen zufolge sank das Vertrauen der Franzosen in die Arbeitnehmerorganisationen zwischen Herbst 2005 und Sommer 2006 nochmals um sechs Prozentpunkte. Sympathiepunkte gewannen in den Protesten gegen den neuen Arbeitsvertrag einzig die Studierendenverbände. Mit ihnen verglichen, wirken die Gewerkschaften wie Altherrenverbände - bei der CGT sind fast drei Viertel der Mitglieder Männer, das Durchschnittsalter liegt über 50.

Schlecht organisiert, finanzschwach, überaltert, unter sich zerstritten: Kein Wunder, verfügen die französischen Gewerkschaften über den tiefsten Organisationsgrad der europäischen Arbeitnehmer: Nur 8 Prozent der erwerbstätigen Französinnen und Franzosen haben sich in eine Gewerkschaft eingeschrieben. Im Privatsektor sind es noch weniger, da Lehrer, Eisenbahner oder Staatsbeamte im öffentlichen Dienst überdurchschnittlich stark organisiert sind.

Um sich Gehör zu verschaffen, müssen die etablierten Arbeitnehmerverbände ihren Diskurs ständig radikalisieren - auf die Gefahr hin, dass Wort und Tat immer mehr auseinanderklaffen. Damit kämpfen sie auch gegen kleine, aber aufsässige Neuorganisationen trotzkistischer Prägung wie etwa SUD, deren Mitglieder selbst in alte CGT-Bastionen wie die Eisenbahn oder Elec-tricité de France einbrechen.

Mit diesem politischen Druck erreichen die Gewerkschaften - wie in Frankreich üblich - mehr als über Tarifverhandlungen. Weil nächstes Jahr Wahlen anstehen, setzten CGT, CFDT und FO immerhin zusammen mit der Linksopposition durch, dass der Mindestlohn ab 1. Juli um mehr als drei Prozent angehoben wurde und dass die bereits beschlossene Privatisierung von Gaz de France auf Herbst verschoben wird. Bei der rasanten Globalisierung französischer Großkonzerne - aktuell zum Beispiel Renault-Nissan/General Motors, Arcelor/Mittal Steel oder auch EADS/Airbus - hinken sie der Entwicklung allerdings meist hinterher. (Stefan Brändle aus Paris/DER STANDARD, Printausgabe, 26.7.2006)