Der Titel meines neuen Buches, Die Faust-Karriere , verweist auf den Identitätskampf eines Menschen, der in einer Welt gesellschaftlicher Umbrüche denkt und handelt; es ist die Gebrochenheit der Existenzweise des modernen Menschen, der weit reichende Umdefinitionen erfährt. Nicht nur Faust ist eine Figur der Epochenschwelle zur modernen Zeit, auch Goethe selbst ist in diesen gesellschaftlichen Umwandlungsprozess einbezogen, in dem kapitalistischer Erwerbsgeist, moderne Wissenschaft und Ruhelosigkeit des Daseins allmählich vom Menschen Besitz ergreifen. Der Geist des Kapitalismus, wie ihn Max Weber mit der innerweltlichen Askese des totalitären Erwerbstriebes verknüpft, zieht sich wie ein roter Faden durch beide Teile des Faust , dessen Hauptfiguren Goethes Leben ja praktisch vom Jugendalter bis zum Tode begleiten.

Es mögen, in einer gesellschaftlichen Gegenwartsatmosphäre, in der "Faust-Formeln" von einem zum Idealtypus aufgerückten unternehmerischen Menschen die Runde machen, Gedanken auftauchen, die eine bizarre und häufig auch groteske Aktualität anzeigen. Hat Goethe gewusst oder doch wenigstens gespürt, dass man Tragödien nur noch verfassen kann, wenn man die Gesamtsituation des modernen Menschen zum Gegenstand macht? Der Blick ist zu eng, wenn man in Faust eine ausschließlich deutsche Figur sieht; deutsch ist sie gewiss auch, aber schon der Teufelspakt enthält einen Inhalt, der viel weiter reicht und eher auf ein Existential der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verweist. Wer Faust aus der Perspektive des fünften Aktes zu lesen versteht, wird Stufe für Stufe auf Situationen und Kategorien stoßen, die alle das infrage stellen, was unter der Polis-Utopie zu verstehen ist.

Das dem Teufelspakt zugrunde liegende Versprechen: "Werd' ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen: / So sei es gleich um mich getan!" (1692/93), könnte heute, aus Angst vor den die Existenz bedrohenden Folgen, jedem abgepresst werden, der einen Arbeitsvertrag eingeht. Und die Parole: "Wer immer strebend sich bemüht / Den können wir erlösen" (V 1193/37, bei Goethe freilich schon mit der Brechung eines Zitats gesetzt) - das ist doch im Augenblick die magisch aufgeladene Beschwörungssprache der Arbeitsagenturen.

Im Laufe seiner Karriere, die ihn aus dem Hörigkeitsgehäuse des Intellektuellen befreit, macht Faust Erfahrungen in sehr verschiedenen Berufsfeldern wie dem des Poeten, dem des Feldherrn, dem des Staatsmanns, um sich schließlich, auf der Grundlage eines kaiserlichen Lehens, als "volksfreundlicher" Modernisierer und Wohnungsunternehmer zu betätigen. Wollte man diese Karriere zu einer Satire umformen, könnte man von Umschulungen Fausts sprechen. Warum diese "Umschulungen" als angesammelter Erfahrungsschatz in die Unternehmerwelt Fausts kaum eingehen, bleibt freilich ein Problem.

Ich habe bewusst den Titel Karriere gewählt und nicht, was auch möglich gewesen wäre, Lebensgeschichte, weil der Ursprungssinn des Wortes genauer trifft, was ich mit diesem Buch beabsichtige. Das Wort bezeichnet im neuzeitlichen Gebrauch eine berufliche Laufbahn; im 18. Jahrhundert entlehnt aus dem gleichbedeutenden Französischen carrière, was vormals "Rennbahn" und manchmal auch "verschärfter Galopp" bedeutete (im Mittellateinischen via carraria, im Italienischen carriera), steckt gleichzeitig "der Wagen", "der Karren" mit darin und "die Fahrstraße", die für Bewegung und Transport einen befestigten Boden bietet.

Faust ist genau das, was Joseph Schumpeter als dynamischen Unternehmer bezeichnet: immer zerstörerisch und aufbauend in einem; ein Hauptmerkmal dieses zum Unternehmer mutierten Menschen ist es, fortwährend neue Kombinationen ökonomisch verwertbarer Kräfte zu basteln. Das ist nun die andere Seite dieses zweiten Lebenslaufs, der den verzweifelten Intellektuellen in die Produktionsgemeinschaft und die Ideologie des Unternehmerlagers treibt.

Von dieser Ethik des Erfolgs, wie Hans-Olaf Henkel, ehemaliger hoher Verbandsfunktionär der Arbeitgeber, das im neoliberalen Glaubensbekenntnis bezeichnet hat, ist freilich die Ebene der Gewalt, des Betrugs, des Mordes und der Ausbeutung nicht abzulösen; Mephisto weiß das, und Faust übernimmt in keinem Punkt seiner Handlungen die Verantwortung für das, was er nahe gelegt oder befohlen hat. "Krieg, Handel und Piraterie, / Dreieinig sind sie, nicht zu trennen." (V 11187/88) Das ist im Großen und Ganzen seine Ethik des Erfolgs. Und das Feuer gehört zu dieser Unterseite der Verbrechensgeschichte der Faust-Karriere.

Man muss keineswegs so weit gehen wie einer der bedeutendsten Faust-Darsteller, Will Quadflieg, der Faust schlicht als einen faschistischen Typen charakterisiert. In der großen Zeit der Verdrängung, 1957, 1958, spielte er mit Gustaf Gründgens als Mephisto den ersten und zweiten Teil. Aber Gründgens, als Intendant, habe ihm nicht erlaubt, diese faschistische Komponente auszuagieren, wohl auch, wie Quadflieg hinzufügt, aus Gründen seiner eigenen Verwicklungen in den Nationalsozialismus. Er sagt: "Faust war für mich nie dieser Habe-nun-ach!-Philosoph. Ich fand ihn immer hybrid, arrogant und rücksichtslos. Und keine Angst vorm Satan. Im Gegenteil. Er lässt sich lustvoll mit ihm ein. Das hatten wir doch gerade hinter uns, dieses Koste-es-was-es-wolle. 'Mich plagen keine Skrupel und Zweifel', und koste es Millionen Menschen. Faust. . . . war für mich der faschistische Typ. Er mordet und vergewaltigt." So ist nun, neben der räuberischen Form kapitalistischer Kolonialisierung, welche die Bewegungsgesetze menschlicher Existenzweise gegenwärtig bestimmt, auch eine Seite deutscher Geschichte in Erinnerung gebracht, in der das Feuer, das Abbrennen von Problemen, von Häusern und Menschen zur schmerzhaften Tradition geworden ist.

Es ist dies ein entscheidendes Motiv für mich, die Faust-Tragödie, beginnend mit dem Ende, und vom gesellschaftlichen Untergrund her, neu zu lesen. Keine Figur der modernen Literaturgeschichte hat in ähnlicher Weise die Fantasie der Menschen erregt und angeregt, ihre Lebensgeschichte fortzuschreiben oder in Wort und Musik umzugewichten. Viele Opernhäuser und Konzertsäle würde es füllen, allein die musikalischen Faust-Variationen aufzuführen.

Mozart wäre, wie Goethe meinte, wohl der geeignetste Komponist seines Faust gewesen, aber die Lebenspanne Mozarts reichte eben nur bis in die Zeit des Urfaust, der ihm unbekannt blieb. Schumann, Berlioz, Gounod, Liszt, Boito und viele andere haben den Faust-Stoff verwendet und vertont. Die Literatur ist, wenn ich nicht irre, mit Faust-Variationen so üppig und dicht angefüllt, dass auch hier die Übersicht verloren zu gehen droht. Thomas Manns Doktor Faustus wiederum greift die Symbolgestalt auf, stutzt aber gleichzeitig das Maßlose in ihr auf eine fassbare Gestalt. Goethe hatte ursprünglich wohl daran gedacht, seinen Faust mit einer Gerichtsszene abzuschließen; das wäre eine Art himmlisches Appellationsgericht gewesen, einberufen aufgrund der Klage von Mephisto, der sich bereits als Gewinner von Wette und Vertrag sah und jetzt feststellen muss, dass ihm die Engel Fausts Seele rauben.

Mephisto kann mit guten Gründen annehmen, dass eine mit Argumenten und Beweisen ausgetragene Gerichtsverhandlung über Fausts Lebenslauf und Karriere nichts anderes zutage fördern kann als Fausts Verurteilung, denn wie wollte man aus dieser Entwicklungsgeschichte ein Gott wohlgefälliges Leben rekonstruieren?

Der rastlose Erwerbsgeist und der tätige Wille, unter allen Umständen das "Faulbett"zu meiden, können unmöglich als Zwecke in sich betrachtet werden; vielleicht hat Goethe, im Rückblick auf die einzelnen Erfahrungszusammenhänge der Faust-Karriere, mit der in ihr als bestimmende Kraft wirksamen kriminellen Energie, unter keinen Umständen einen öffentlichen Gerichtstag einberufen können, um diesen Abguss einer Seele (kaum zufällig wird am Ende dafür auch der griechische Begriff der Entelechie nicht mehr verwendet) in den Himmel zu befördern.

Die Seelenqualität Fausts bleibt im Dunkeln, genauso wie die Aufrechnung von Verdienst und Schuld. Erich Trunz begründet Goethes Abrücken vom Epilog als Gerichtsszene mit poetischen Erwägungen. ". . . in seiner Schöpferphantasie stiegen andere Visionen auf, und so schrieb er stattdessen die Szene Bergschluchten. Ihre Bilder der Steigerung brachten seine religiösen Ahnungen besser zum Ausdruck als ein Gespräch, das wie ein Prozess mit einem Urteil über das Geschehene geendet hätte." Was hätte Faust dann noch alles anstellen müssen, und welcher weiteren Beschädigungen seiner Seele hätte es bedurft, damit Mephisto hätte sagen können, er habe diesen Geist wirklich von seinem menschlichen Urquell abzuziehen vermocht?! Eine bloße poetische Umorientierung reicht nicht für diesen Bruch in Goethes Konstruktion aus. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22./23.7.2006)