Mengke ist seit November mit seiner Familie auf Pilgerreise. Nun trennen sie nur noch zehn Tage Fußmarsch von ihrem Ziel Lhasa

Foto: Johnny Erling
Lhasa - Der Pilger steht am Rande der Straße und kümmert sich nicht um die hupenden Lastwagen. Er lässt sich auf seine Knie fallen und schlittert mit ausgestreckten Armen auf dem Asphalt nach vorn. Seine Hände schützen umgeschnallte Holzbretter. Dann steht er wieder auf, geht einige Schritte und beginnt sein Ritual von Neuem. Meter um Meter rutscht er so voran. Vorn ziehen seine Eltern einen voll bepackten Karren mit der Pilgerfahne: "Vor acht Monaten brachen wir auf. Es war noch kalt,"sagt sein 50-jähriger Vater Mengke. Seit November ist die Familie auf Pilgerzug nach Lhasa. Sie kommen aus einem 2000 Kilometer entfernten Dorf im tibetisch-autonomen Gebiet Ganzi. Viele zehntausende Male hat sich der Sohn bereits auf den Boden geworfen.

Wir überholen die Gruppe zwischen Naqu und Lhasa, 150 Kilometer vor der tibetischen Hauptstadt. Naqu ist seit 1. Juli Station der neuen Tibet-Eisenbahn. "Die Familie hat noch zehn Tage Fußmarsch vor sich"erklärt unser Fahrer. Ihre Religiosität lässt sie die Strapazen auf sich nehmen. "In Lhasa gehen wir einmal um den Stadtring", sagt Mengke. Sie wollen auch den Potala umrunden. Ihr Ziel ist aber der Jokhang Tempel, wo sie ihre Opfer bringen wollen.

Gefahr für den Potala

Andere Gläubige, vor allem aus der Umgebung Lhasas, suchen dagegen immer wieder den Potala-Palast als Stammsitz von Generationen der Dalai-Lamas auf. Sie zahlen als symbolischen Eintritt einen Yuan (zehn Cent). Qiangba Gesang, Verwaltungsdirektor des zum Weltkulturerbe zählenden Potala, ist inzwischen froh über jeden ausbleibenden Besucher. Er fürchtet um die Sicherheit des 13-stöckigen Bauwerks aus Holz und Lehm. Seit Eröffnung der Tibeteisenbahn am 1. Juli "schlafe ich nicht mehr ruhig."2005 besichtigten im Durchschnitt täglich 1000 Menschen den Potala. Ab nächstem Sommer werden täglich 6000 Reisende per Flugzeug und vor allem mit der Bahn in Lhasa einfallen. Die meisten wollen den Potala sehen. "Schreibt nicht mehr, wie schön er ist"bittet Qiangba die Journalisten. "Sonst kommen noch mehr."Tibets Planer rechnen ab 2010 mit mehr als 2,7 Millionen Touristen pro Jahr, mehr Menschen als auf der gesamte Hochebene derzeit leben.

Die Auswirkungen sind sichtbar. Die Gänge im Potala, die zu den Kammern mit Kleinodien des Lamaismus führen, sind durch Seile unterteilt. Pilger und Besucher schieben sich auf der einen Seite vor und kehren auf der anderen zurück. Die Eintrittskarten sind streng kontingentiert. Die Obergrenze liegt bei 2300 Besuchern.

Massentourismus

1300 Jahre nach seinem Bau bedroht der Massentourismus den "Berg des Buddha". Peking ließ sich die Renovierung des einsturzgefährdeten Potala, dessen Holzträger von Würmern zerfressen waren, bisher 25 Millionen Euro kosten. Es wäre paradox, wenn ausgerechnet chinesische Touristen, die sich für tibetische Religion und Kultur begeistern, nun vollenden, was Pekings kommunistischer Partei nie gelang. In den ersten drei Jahrzehnten ihrer Schreckensherrschaft über Tibet versuchte sie immer wieder die religiösen Tibeter von ihrem Glauben und ihrer Verehrung des Dalai-Lama abzubringen, der 1959 ins indische Exil floh. Der Potala, der Winterpalast des Dalai Lama, sollte ein seelenloses Museum werden.

Vergebens. Der Lamaismus und seine besondere Aura hat Chinas neues Bildungsbürgertum für die tibetische Hochkultur angesteckt. Bei den 83 Mönchen, die im Potala Dienst tun, sieht man ebenfalls Veränderungen. "Unter uns sind weniger falsch als noch vor drei Jahren"wispert einer der Mönche. Er spielt auf die früher im Potala herumstehenden Beamten der Staatssicherheit in Mönchskutten an.

Auch aus dem heiligen Jokhang-Tempel meldet Vizedirektor Qu Zha einen Ansturm. 150.000 Touristen waren es bisher pro Jahr. Mit doppelt so vielen rechnet er 2007. Besucher dürfen nur nachmittags in den Jokhang. Der Vormittag ist dem Studium der 118 Mönche vorbehalten. Wahre Pilger dürfen aber auch vormittags hinein; Mengke und seine Familie etwa. Sie sind noch Tage vom Jokhang entfernt - Schritt um Schritt, Kniefall um Kniefall. Wer sich dem Tempel so nähert, dem stehen alle Türen offen. (Johnny Erling, DER STANDARD Printausgabe, 17.07.2006)