Foto: Christian Fischer
Wien - Schon beim Anreisen in den Wiener Prater wurde man auf etwas eigenartige Weise mit dem Kommenden konfrontiert: Ältere Mitbürger erinnerten beim Nordic-Walking-Selbstversuch auf der Hauptallee schwitzend und nicht nur vorteilhaft uniformiert daran, dass das Thema "In Würde altern"bei den Rolling Stones auch schon etwas länger mitschwingt und - je nach der Intensität des Glaubensbekenntnisses - zwei Sichtweisen zulässt. Eine lautet: Ihr bringt es nicht mehr! Hört auf, euch lächerlich zu machen! Gebt Frieden, leckt eure Wunden, tschüss mit "ü".

Diese Argumentation baut auf die Aberkennung erwähnter Würde und auf die Tatsache, dass Jagger und Co es sich finanziell wohl leisten könnten, der Welt die Rolling Stones zu ersparen. Die andere meint: Wenn Neil Youngs insistierendes Manifest "Hey hey, my my, Rock 'n'Roll will never die"auf jemanden zugeschnitten sei, dann auf die Rolling Stones.

Wenige Stunden später war klar, dass Rock 'n'Roll auch im fortgeschrittenen Alter dem Nordic Walking vorzuziehen ist. Mit wenigen Abstrichen wie einem unnötigen Saxofonsolo oder Jaggers in schlechtem Deutsch vorgetragenen Anbiederungen - "Sön, euch so nahe su sein!"- erlebte man eine hin- und mitreißende Show, bei der ein paar hängebackige alte Männer dreckige alte Rock-'n'-Roll-Riffs spielten. Was will man mehr?

Eine Ray-Charles-Coverversion zum Beispiel. Diese kam und wurde mit Zutun der Backgroundsängerin Lisa Fisher, die Jagger im Duett stimmlich wegblies wie der Novembersturm ein welkes Blatt, zu einem Höhepunkt des Abends: Night Time Is The Right Timeheißt das Stück und erinnerte als Bläser-gestützter Blues-Stomper daran, dass die Stones ohne die Vorarbeit schwarzer Musiker wie Muddy Waters, Howlin'Wolf oder Don Covey möglicherweise heute ebenfalls mit zwei Skistöcken durch die Pampa "walken"würden.

Auch nicht schlecht: In der Mitte des Konzerts brachte eine fahrbare Hebebühne die gesamte Band zu einer kleinen Rampe in der Mitte des Stadions. Obwohl Richards bei der An- und Abreise dahin angesichts des sich unter ihm bewegenden Bodens etwas irritiert wirkte, zählten die anschließend dort gespielten Stücke Rough Justice, Start Me Upund Honky Tonk Womanzu den intensivsten der Show.

Komprimierte Kräfte

Diese kleine Bühne schien die Kräfte der Stones zu komprimieren: Watts spielte einen ungewöhnlich fetten Rhythmus und Jagger konzentrierte sich - ohne Auftrag, an irgendeine Bühnenperipherie und wieder zurück zu keuchen - auf seinen Gesang. Nur Keith Richards schien nach so viel Aufregung etwas neben sich und wirkte beim Verkörpern seiner etwas hoppertatschig gespielten Riffs, als sei ihm gerade ein Malheur passiert.

Richards gilt ja nicht erst seit seinen Sturz von einer Palme vor ein paar Wochen als Sorgenkind der Stones. Von wegen: das in Hochprozentigem konservierte Paradebeispiel eines bis an den existenziellen Rand gelebten Rock 'n'Roll. Auch bei den von ihm gesungenen, brüchigen Songs This Place Is Emptyoder Before They Make Me Runwirkte er mittel bis schwer unter Einfluss stehend. Er war es auch, der im hinteren Drittel des Konzerts eher durch Dauergrinsen als durch genialische Gitarrenarbeit faszinierte. Möglicherweise verlieh aber genau dieses unwirsche und nur noch fast koordinierte Zutun der Darbietung die überzeugende Rohheit.

Bereits zuvor, beim hübschen As Tears Go By, das das einzige Stones-Mitglied mit einem altersgemäßen Bäuchlein auf der Akustischen vom Barhocker aus begleitete, schien er sich darüber zu freuen, dass ihm die richtige Akkordfolge rechtzeitig dämmerte. Trotzdem oder auch deshalb lieben viele diese Band.

Fast 50.000 Besucher sagten dieses Mal "Ja!"zu den Stones. Die Frage, ob und wann sie wiederkommen, ist nicht wirklich zu beantworten. Sollte das ihr österreichischer Abgang gewesen sein, dann war er jedenfalls schwer okay. (Karl Fluch/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17. 7. 6. 2006)