Michael Stavaric
"stillborn"

Roman
€ 15,90/ 176 Seiten
Residenz, St. Pölten, Salzburg 2006.

Foto: residenz verlag
Totgeborene Kinder sind zum Sterben geboren. Leidensträger unter den Eltern, die sich zum Ziel gesetzt haben, das Bewusstsein für dieses Problem zu heben, setzen sich für den noch nicht allgemein akzeptierten, vom Englischen hergeleiteten Begriff "Stillgeburt" ein. Das englische stillborn dient denn auch dem vorliegenden Roman als Titel. Die monologische Stimme der Erzählerin Elisa, die sich den gesamten Roman hindurch als gefühllose, aber sehr lebendige Tote darstellt, ist jedoch ganz und gar nicht still.

Die Kritiken zu diesem Roman diagnostizieren der Erzählerin Geistesverwirrtheit und bedauern unglückliche psychologische Zusammenhänge und Kindheitstraumata. Sie bewundern zwar die atemlose Sprache , aber sie betrachten sie als Resultat einer traumatischen Lebenserfahrung, die mit zwei Kriminalfällen, einem Serienmord an Kindern in einem niederösterreichischen Dorf und einer Brandserie in leer stehenden Wiener Wohnungen auf rätselhafte Weise verbunden sein könnte.

Zwar werden diese Fälle nie endgültig aufgeklärt, doch einige Erklärungsversuche eröffnen sich dem aufmerksamen Leser dennoch. Die Erzählerin, erfolgreiche Angestellte eines Wiener Immobilienbüros, die es selbst nie lange in einer Wohnung aushält und deshalb zu ihrer eigenen besten Kundin wird, berichtet nämlich zumindest einmal eindeutig von einem selbst gelegten Brand. Die Faszination für das Feuer zieht sich durch den Roman, vom frühen Wunsch, der Feuerwehr beizutreten, bis hin zur Selbststilisierung als Kind des Vulkans, die in auffälligem Gegensatz zur unterkühlten Sprache steht. Dass Herr Schmidt, der Besitzer des Immobilienbüros und Elisas Chef, gegen Ende des Buches selbst als Brandstifter entlarvt wird, tut der Verstrickung der Erzählerin keinerlei Abbruch.

Der zweite unaufgeklärte Fall ist mit etwas Beobachtungsgabe noch leichter zu dechiffrieren. Den ermordeten Mädchen fehlt jeweils der Zeigefinger, und immerhin ist es Elisas Mutter, eine Frau mit unklarer Herkunft, die ihr ein Paket mit fünf Knochen übergibt: die Fingerchen von jenen Mitschülerinnen, die vor Jahren auf Elisa gezeigt und sie "Hurenkind" genannt haben. Es sind jedoch nicht die psychologischen Hintergründe, die das Hauptinteresse für sich fordern. Sie werden in den häufigen Sitzungen beim Psychiater banalisiert, ja manchmal verulkt - Mitleid wird in diesem Buch keines benötigt. Elisas Sprache ist auch kein Protokoll geistiger Verwirrung, wie einige Kritiker zur Rettung der Moral insinuieren, sondern gibt in unbarmherziger Deutlichkeit den Willen der Erzählerin wieder, Grenzen des konventionellen Lebens zu testen und zeitweise zu überschreiten.

An Elfriede Jelineks dekonstruktivistischen Anti-Porno Lust, allerdings ganz ohne moralisierendes Timbre, erinnert diese Stimme, wenn sie der entfremdeten Banalität von Sexualität Ausdruck gibt. Elisas potenzieller Freund Georg, Polizist und Ermittler in Sachen Brandanschläge: "Später: Er bewegt seine Schnauze, genau in meine Richtung, küsst mich, küsst weiter, fehlt noch, dass er mit dem Schwanz wedelt." Ein erfolgreicher Kunde: "Er, Mitte dreißig, Wasserbett, die Hemden lässt er von einer Polin bügeln, wenn nicht mehr." Aber auch Elisa selbst, mit ihrem Pferd: "Aaron, nach dem Striegeln, am Abend, da krieche ich unter seinen Bauch, ich kann ihn mit Müh und Not in den Mund nehmen, ist der dick, Mann." Elisa ist eine "Totgeburt, die herumirrt, sich wie eine Erwachsene benimmt, ab und zu ans Ficken denkt, selbst wenn sie nichts dabei verspürt" - mit einem gehörigen Schuss Effizienzdenken und Pragmatik: "Schlafen, Ficken mit sich selbst, ich sollte das längst so handhaben."

Das Buch erinnert aber auch an den Skandalroman American Psycho des US-Amerikaners Bret Easton Ellis, dessen Doppelexistenz zwischen Hyperkonsument und Serienmörder keinen moralisch bedenklichen Gegensatz darstellt, wie die Zensur vorschnell vermutete, sondern sich als wunderbar miteinander vereinbar erweist. Genauso kann man wohl auch den Wunsch der Immobilienhändlerin verstehen, die Objekte ihrer Tätigkeit in Rauch aufgehen zu sehen. Literaturhistorisch betrachtet stellt der Roman vielleicht eine neue Untergattung dar: den Immobilienhändlerroman, den sich tatsächlich niemand aus der Branche entgehen lassen sollte, schon aufgrund der souveränen Blicke auf den Wiener Wohnungsmarkt.

Tagtäglich bietet Elisa Räume an, von denen sie weiß, dass sie durch zeitgemäße Einrichtung und Nutzung zu veritablen Folterkammern umgestaltet werden können. Mehrmals tritt sie für die Selbstbestimmung von Räumen ein ("das liegt mir im Blut, das Handeln mit Leere, das Feilschen um Räume, die noch werden, werden können, ob sie selbst wollen, danach fragt keiner"); selbst reduziert sie ihre Wohnumgebung auf das Allernötigste. Feuer, Rauch und Ruß haben desinfizierende Wirkung - die Brandstifterin wieder einmal, aber auf ganz andere Weise: als Antagonistin der Bürgerlichkeit.

Ob die scheinbar unbekümmerte, dabei aber akut selbstmordgefährdete Elisa Frankenstein den Weg ihrer Namensvetterin Elisabeth, der jungen Frau Victor Frankensteins aus Mary Wollstonecraft Shelleys Roman, nehmen und in der Hochzeitsnacht vom Monster umgebracht werden wird, bleibt unklar; fühlt sie sich doch selbst eher als monsterhafte Täterin denn als Opfer. Zur Hochzeit mit Kommissar Georg wird es - vielleicht - kommen: Immerhin könnte sie, so die Befürchtung im letzten Absatz, schwanger sein. Wenn sie nicht ohnehin mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs im Schneegestöber ihren Tod finden wird. Vieles bleibt offen in diesem ganz und gar nicht debüthaften, bemerkenswert dichten Roman des zweisprachigen, 1972 in Brünn geborenen, in Österreich aufgewachsenen Michael Stavaric. Aber vielleicht liegt gerade darin das spezielle befreiende Moment dieser ins Leben entlassenen Stillgeburt. (Walter Grünzweig, DER STANDARD, Printausgabe vom 15./16.7.2006)