Moskau/Wien - Entgegen den offiziellen Darstellungen Moskaus ist die Lage in Tschetschenien weit von einer Normalisierung enfernt. UNO-Menschenrechtskommissarin Louise Arbour sprach nach einem Lokalaugenschein in der russischen Kaukasusrepublik im vergangenen Februar von einem "Klima der Angst". Ursache seien "sehr ernste Unzulänglichkeiten"des Rechtssystems, wobei sowohl die Polizei als auch die Milizen eine besondere Rolle spielten. Die Milizen werden von Regierungs-chef Ramsan Kadyrow kommandiert und sind für ihre Brutalität bekannt.

"Besonders beunruhigend"nennt Arbour die weit verbreitete Folter zur Erpressung von Geständnissen und Informationen sowie die Einschüchterung von Menschen, die gegen Beamte und staatliche Stellen Beschwerde einlegten. Nicht glaubhaft sei es, dass das Verschwinden vieler Menschen in Tschetschenien daran liege, dass diese die Republik freiwillig verließen, "ohne Informationen zu hinterlassen".

110.000 Tote

Nach einer Schätzung der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sind in Tschetschenien seit dem erneuten Einmarsch der russischen Armee im Herbst 1999 (der erste Krieg dauerte von 1994 bis 1996) bis zu 5000 Menschen verschwunden. In elf Jahren wurden etwa 10.000 russische Soldaten und rund 100.000 Zivilisten getötet.

Für 2005 hat die russische Menschenrechtsorganisation Memorial 316 Entführungsfälle erfasst. Davon seien in 23 Fällen die Verschleppten tot aufgefunden worden. Mehr als 150 Entführte wurden freigelassen oder freigekauft. Allerdings zeigen diese Zahlen laut Memorial nur einen kleinen Ausschnitt der Realität, da die Organisation nur 25 bis 30 Prozent des Territoriums beobachten könne. (AFP, red, DER STANDARD, Print, 12.7.2006)