Maguy Marin, "Umwelt": Choreografie einer Gesellschaft, die es immer wieder wissen will.

Foto: ImPulsTanz/ Ganet
Foto: ImPulsTanz/ Ganet
Die Choreografie Flatland 1 der Portugiesin Patrícia Portela ist eigentlich kein "Stück", denn niemand kommt auf die Bühne und tanzt.

Das Projekt store von Michikazu Matsune & David Subal ist ebenfalls kein "Stück"; es findet nicht in einem Theater statt, sondern in einem Geschäft, in dem man Kopien von Tänzen, Tableaux vivants oder kleine Installationen kaufen kann.

Philipp Gehmacher tanzt in seinem Solo das überkreuzen beyder hände sehr minimalistisch zur Musik von Mozart und den Bewegungen eines Pianisten. Tänzerisch sparsam sind auch Jonathan Burrows & Matteo Fargion in Both Sitting Duet und Quiet Dance. Während seines Dialogs Pichet Klunchun and myself zeigt der französische Choreograf Jérôme Bel dem thailändischen Tänzer Pichet Klunchun, dass er unter Tanz ausschließlich Bewegungen versteht, wie sie jeder im Club aufführen kann.

Was im kollektiven Gedächtnis unter "Tanz" als virtuoses, fließendes und rhythmisches Bewegungsmuster gespeichert ist, repräsentiert die Kunstform Tanz nur zum Teil. Der renommierte Tanztheoretiker André Lepecki beginnt seine jüngste Publikation Exhausting Dance (New York 2006) mit einer Darstellung der Probleme, die die US-Fachkritik heute mit der in Europa wenigstens im Ansatz etablierten Erweiterung des Tanzbegriffs hat.

Phönix aus der Asche?

Obwohl der postmoderne Tanz - Yvonne Rainer, Steve Paxton, Lucinda Childs, Trisha Brown u. a. - seine Wurzeln in den USA hat, verursachten eine restriktive Förderpolitik und künstlerische Angepasstheit in den 90ern den Untergang des amerikanischen Tanz-Imperiums. Querdenker wie William Forsythe, Meg Stuart oder Jennifer Lacey machten in Europa Karriere. Dass sich die New Yorker Choreografie heute wieder etwas erholt, zeigen bei ImPulsTanz Ann Liv Young, Miguel Gutierrez, DD Dorvillier und Maria Hassabi neben good old Bill T. Jones.

Der choreografische Konzeptualismus Europas sucht sich indes von den Vorgaben der Sixties zu lösen. So setzt die junge dänische Choreografin Mette Ingvartsen - im Festival wird ihr Solo 50/50 zu sehen sein - dem berühmten "NO-Manifesto" (1965) von Yvonne Rainer ein "YES-Manifesto" entgegen. Denn heute soll wieder alles möglich sein.

Damit bewegt sich Ingvartsen in die Nähe des frankoösterreichischen Kollektivs Superamas, das in seiner jüngsten Arbeit, Big 3rd Edition (happy/end), der Unterhaltungsindustrie die eigenen Bilder verzerrt gegenüberstellt. Jérôme Bel vollzog die Abkehr von den 90ern pünktlich im Jahr 2000 mit The Show Must Go On! - heute ein Klassiker der zeitgenössischen Choreografie.

Der hochgerüsteten Unterhaltungsindustrie hat die Kunst letztlich keine adäquate Kommunikationsmacht entgegenzusetzen. Sehr wohl aber lässt sich das große Infotainmentsystem, das uns alle in seinen weichen Därmen ruhig spült, kurzfristig infizieren, irritieren und entblößen. Sei es durch beunruhigende Szenenabfolgen wie bei Maguy Marins Umwelt, durch menetekelhafte Bilder wie bei Emio Grecos & Pieter C. Scholtens Hell, durch Superamas' ironische Enthüllungen oder durch Chris Harings Science-Fiction-Derivate.

Bis heute tut sich das Gros der Spielgefährten in der Kultursandkiste schwer damit, dem Tanz seine diskursive Kompetenz abzukaufen. Aber mittlerweile ist klar, dass der Neoliberalismus alle - auch die "kritische" - Kunst mit Genuss aufsaugt oder absorbiert. Und das irritiert oder lähmt deren Diskurse.

Ein lange marginalisiertes Areal unter den Künsten tut sich da leichter: Zeitgenössischer Tanz vermittelt eine Ethik des Körpers, die sowohl der unserer Kultur innewohnenden Leibfeindlichkeit als auch dem Körperkult der Fit-'n'-Fun-Gesellschaft widerspricht. Sobald der Körper zum Ereignis der künstlerischen Kommunikation wird und sich als komplexes Gebilde in allen seinen Möglichkeiten äußert, geschieht eine politische Setzung, die sonst nur über Umwege zu erreichen ist.

Denn im Tanz ist der Körper nicht bloß Bild, Text, Repräsentation oder Zeichen, sondern darin ein präsentes, bewegtes, vitales System. Als solches ist er grundsätzlich gegen seinen Missbrauch durch die Machtkomplexe von Verwaltung und Wirtschaft gesetzt. Deren wüste und absurde Spiele blitzen direkt oder indirekt in Anne Teresa De Keersmaekers, Maria Hassabis oder Emio Grecos, Mathilde Monniers, Raimund Hoghes respektive Marco Berrettinis Gruppenarbeiten auf.

Symbolisch "entnetzt"

Dabei expandiert der Körper in ausgefeilte Ko-Organisationen von Repräsentation, Bewegung, Geste, Sound, Sprache und Licht. Die darstellerische Hervorhebung des Gemeinschaftswesens ist die Strategie von Soloarbeiten wie bei Bénoît Lachambre, Hooman Sharifi, Philipp Gehmacher, Saskia Hölbling und Akemi Takeya oder auch Ismael Ivo. Ihre tänzerischen "Monologe" sind alles andere als eitle Eigenbespiegelungen, sondern definitiv symbolische "Entnetzungen" des Einzelnen, die über ihre Themenstellungen stets ausdrücklich auf dessen Gesellschaftsbezogenheit verweisen.

Das Öffnen des Darstellungsraums in Richtung Publikum ist eine klassische Strategie des postmodernen Tanzes. Barbara Kraus, Willi Dorner, das Kollektiv Lisa, Matsune & Subal sowie Felix Marchand bedienen sich dabei unterschiedlicher Methoden. Wichtig dabei ist, das Publikum als Performance-Komplizen zu gewinnen, ohne es in die peinlichen Fallen des Mitmachtheaters zu locken.

Ein Diskursgenerator

In der Choreografie schlagen die Verwerfungen in den westlichen Gesellschaften derzeit deutlich durch: bei Bel, Marin, Superamas, Haring, Greco, Berrettini, Monnier sowie Grace Ellen Barkey, aber auch bei Lachambre, Hassabi, Alexandra Bachzetsis, Young, Matsune & Subal und Hans Van den Broeck.

Der Anteil an selbstreferenziellen Arbeiten hält sich dagegen auf hohem Niveau in Grenzen. Etwa in der Thematisierung der Beziehung zwischen Tanz und Musik bei Keersmaeker (Debussy, Strawinsky, Benjamin), Gehmacher/Saunier/Sanchis mit Alexander Lonquich, Monniers 2008 vallée - pièce pour 7 chanteurs danseurs mit Katerine, Sidi Larbi Cherkaoui (D'avant) und Salva Sanchis mit dem Bruno Vansina Jazz Trio. Oder mit methodischen Strategien wie Keersmaeker und Johanne Saunier und Systemkritik wie Antony Rizzis The Role I Should Have Done.

ImPulsTanz bedient keine Kitschtanzschiene. Das Format ist weder ein anbiederndes Tourismus-Event noch eine Heimstatt für jene, die künstlerische Vielfalt mit der Multiplikation von schöpferischer Einfalt verwechseln.

In dem Programm lassen sich aktuelle Tendenzen in der internationalen Choreografie und die ästhetische Variabilität des Gegenwartstanzes gut erkennen. Und darüber hinaus finden sich in seinem großen Workshop-Reservoir Bezüge zwischen künstlerischer Praxis und Pädagogik.

Damit enthält das Festival ein Diskursfeld, das in jüngster Zeit virulent geworden ist, weil die künstlerische Verantwortlichkeit von Tänzern immer noch im Zunehmen begriffen ist. (Helmut Ploebst /SPEZIAL/ DER STANDARD, Printausgabe, 11.7.2006)